30.09.2011

Die Spur der weißen Blume

Die Spur der weißen BlumeDie Spur der weißen Blume



Die Spur der weißen Blume.

Eine schwule Liebe. Roman
Haag + Herchen Verlag, Frankfurt a. M. 1998, ISBN 3-86137-646-6



Buchvorstellung:

Björn Seidel-Dreffke: Die Spur der weißen Blume. Eine schwule Liebe. Roman. 
Frankfurt a. M. 1998. 216 Seiten. Paperback. EUR 12,70. ISBN 3-86137-646-6

"Unterdrückung der Leidenschaft führt zur Konzentration auf das wirklich Wichtige", denkt der Geschichtsphilosoph Gerd Wegner während eines sonnenglühenden Urlaubssommers. Das mühsam aufrechterhaltene Scheinverhältnis zur langjährigen Freundin hat sich stabilisiert; zudem darf sich Wegner jetzt Professor nennen ... Und ausgerechnet hier in der Abgeschiedenheit des Thühringer Waldes überfällt ihn die ganz große Leidenschaft zum 28jährigen Uwe Jens, der gegenüber die Erinnerung an alle früheren Begegnungen mit jungen Männern verblaßt.

Vor dem Hintergrund der konfliktreichen, von Eifersuchtsqualen und reuevoller Untreue belasteten Elementar-Beziehung bietet der Roman ein dichtes Raster gleichgeschlechtlicher Problematik in der Nachwendezeit der neuen Bundesländer.

Ein differenzierter, psychologisch genauer Roman, der "harte Schreibweise" mit lyrischem Melos und der Poesie mythologisierender Traumsequenzen verschmilzt. Feinfühlig wirbt er um Verständnis für die Lebensform der Homosexuellen.

HAAG+HERCHEN Verlag GmbH * Fichardstraße 30 * D-60322 Frankfurt a. M.


Exposé:

"Unterdrückung der Leidenschaft führt zur Konzentration auf das wirklich Wichtige", denkt der Geschichtsphilosoph Gerd Wegner während eines sonnenglühenden Urlaubssommers. Das mühsam aufrechterhaltene Scheinverhältnis zur langjährigen Freundin hat sich stabilisiert; zudem darf Wegner sich jetzt Professor nennen ... Und ausgerechnet hier in der Abgeschiedenheit des Thüringer Waldes überfällt ihn die ganz große Leidenschaft, der gegenüber die Erinnerung an alle früheren Begegnungen mit jungen Männern verblaßt.

Der 28jährige Uwe Jens, in einem nahegelegenen Krankenhaus als Pfleger arbeitend, hat Abitur, wollte vor der Wende Agraringenieur werden. "... aber 89 ... beschloß ich zunächst einmal den Ausbruch. Ich wußte, daß ich anders bin, und ich wollte es nun leben." Doch immer war Uwe auf der Suche nicht nur nach flüchtiger Berührung, kurzer heftiger Befriedigung, sondern nach der überwältigenden männlichen Liebe, bleibender Bindung. In Gerd Wegner glaubte er den "Lover" fürs Leben gefunden zu haben, folgt ihm zum Studium nach Berlin. Vor dem Hintergrund der konfliktreichen, von Eifersuchtsqualen und reuevoller Untreue belasteten Elementar-Beziehung bietet der Roman ein dichtes Raster gleichgeschlechtlicher Problematik in der Nachwendezeit der neuen Bundesländer. Eine Schwuleninitiative an der Universität entsteht, der Wegner zunächst zögerlich fernbleibt. In der Kirche in Pankow wird eine symbolische Massenhochzeit von Schwulen, von Lesben inszeniert - dort dringt Gerd mit einem Strauß blutbetropfter weißer Blumen im letzten Augenblick zu Uwe vor ... Nun plötzlich willens, alle Dimensionen seiner Veranlagung tabulos auszuleben, locken Wegner unversehens Lokale und Örtlichkeiten, die er bisher peinlich gemieden hatte. Professor Unrat nennt er sich selber. Am Schluß beichtet ihm ein neuer Gefährte, der von Erfahrungen jugendlicher Vergewaltigung und sadistischer Mißhandlung zu erzählen weiß, er sei an Aids erkrankt.

Ein differenzierter, psychologisch genauer Roman, der "harte Schreibweise" mit lyrischem Melos und der Poesie mythologisierender Traumsequenzen verschmilzt. Feinfühlig wirbt er um Verständnis für die Lebensform der Homosexuellen, ohne die Augen vor Abgründen dieser Daseinsprägung zu verschließen.


Rezension:

Rezension zu: Die Spur der weißen Blume. Eine schwule Liebe.

Carola Heller: In: Lexikon homosexuelle Belletristik. 
Hrsg.: Wolfgang Popp und Dirck Linck, Universität-GH Siegen, FB 3

Der Roman "Die Spur der weißen Blume" von Björn Seidel-Dreffke beginnt mit einer mystisch-religiös verklärten Allegorie. Der Hauptheld muß im Traum seinen Partner schwer verwunden und anschließend gesundpflegen, um mit ihm in den Kampf ziehen zu können. Dieser "Spur des Blutes", welche den starken Sexualtrieb versinnbildlich, einerseits und der "Spur der weißen Blume", einem Bild für moralische Ansprüche, andererseits möchte die Handlung folgen. Am Ende begegnen wir wieder dem Traumbild, in dem der Held nun symbolisch das Kreuz der aus diesem Dilemma folgenden Zerrissenheit trägt. Verschärft wird der Konflikt durch die am Ende der Handlung ins Spiel gebrachte Bedrohung durch Aids.

Ganz sicher möchte der Autor mit diesem Roman um Verständnis für homosexuelle Veranlagung und Lebensweise werben. Das mag an manchen Stellen überzogen wirken, so sind z. B. übertriebene Ablehnung und Unverständnis durch die Menschen im Umfeld des Haupthelden nicht überzeugend.

Ein schwuler Professor bekennt sich im Verlauf der Handlung zu seiner Veranlagung, die er fortan mit allen Konsequenzen leben möchte. Sein sensibler Partner möchte den unsteten Lebenswandel der eigenen Vergangenheit aufgeben und glaubt, in Prof. Wegner den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Die hohen moralischen Ansprüche, die der junge Mann an den in seiner neuen Lebensweise noch unsicheren Philosophen stellt, kann dieser nicht erfüllen. Daraus resultiert ein Wechselspiel von Trennungen und Versöhnungen, in welchem die Aktionen der Partner allerdings nicht immer ausreichend nachvollziehbar geschildert werden.

Insgesamt verfehlt das Werk sein Ziel jedoch nicht. Es verdeutlicht, daß sich homosexuellen Fühlen und Denken nicht wesentlich von der Gefühlswelt anders veranlagter Menschen unterscheidet. Dem Stellenwert homosexueller Lebensform in der Gesellschaft versucht der Autor gerecht zu werden, indem er das Engagement der Schwulen in der Öffentlichkeit darstellt.

Was stilistische Qualität und Intensität anbelangt, nimmt der Roman mit fortschreitender Handlung an Stärke zu. Es hat den Anschein, als gewönne der Autor im Prozeß des Schreibens an Sicherheit.



  

Erinnerung

Anthologie Gegenwart und Zukunft versöhnenErinnerung



Erinnerung

In: Anthologie "Gegenwart und Zukunft versöhnen". 
edition haag (hg. v. H.-A. Herchen). Haag + Herchen, Frankfurt a. M. 1992


Noch nie hatte er die Sonne so gesehen. Eine glühende rote Kugel. Das war nicht mehr die gelbliche, blasse Sonne des Nordens. Das war die Sonne des Südens, die sich durch die stickige, schwüle Luft drückte und mit ihrem flimmernden Widerschein die Wolkenschichten erhellte. Er sah, daß sich diese Sonne vor dem Fenster seines Arbeitszimmers postierte. Er hoffte auf den Abend, hoffte auf die Nacht, hoffte auf das Verschwinden dieser Sonne. Doch der Tag hatte gerade erst begonnen.

Gegen Mittag hielt er es nicht mehr aus. Er schloß die Augen. Zahlen und Linien verschwanden. Doch diese Sonne verschwand nicht, wich aber langsam weiter und weiter in den Hintergrund. Davor wuchs eine Sandwüste an, eine Karawane quälte sich durch den Staub. All diese Bilder aber überragte das Bild der Stadt. Er stand plötzlich inmitten der Stadt und trug lange fremdländische Gewänder. Seine Haut war verbrannt. Als er sich umdrehte, sah er, wie ihm die Karawane in die Stadt folgte. Er gehörte dazu, gehörte zu jener Karawane und zu jener Stadt.

Ein herrlich würziger Geruch schwebte über allem. Er näherte sich mit einem Teil seiner Karawane dem Marktplatz. Solche Teppiche hatte er noch nie gesehen. Der alte Mann, der sie verkaufte, nickte ihm zu. Sein Blick floß in ihn ein. Er starrte den alten Händler an, starrte unverwandt in dessen braune Augen.

'Ich kenn' ihn. Den Mann kenn' ich doch von irgendwoher. Jetzt winkt er mir. Was soll ich bloß machen? - Weitergehen! Frank, zwing dich weiterzugehen!'

Sonderbar klang in ihm der Gedanke an seinen eigenen Namen. Frank. Das paßte nicht hierher, gehörte nicht in diese Stadt.

Er war weitergegangen. Vorbei an schmutzigen Häusern, durch enge Gassen. Ein Liebespaar kam ihm entgegen. Sie trug ein langes, buntes, silberbesticktes Gewand. Im schwarzglänzenden Haar sonnte sich eine blutrote Rose. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihn. Er schrak zusammen. Sah den beiden hinterher. Bemerkte, daß der junge Mann ein blitzendes Messer im Gürtel trug. An der Ecke saß eine alte, uralte Frau, die bot getrocknete Blumen feil. Das Tuch hatte sie bis tief in die Stirn gezogen.

Da wurde er aufgehalten. Ein kräftiger, breitschultriger Mann stand vor ihm. Der redete auf ihn ein. Der schrie ihn an. Ihm wurde plötzlich der ekelhafte Fischgeruch voll bewußt, der über der Gasse hing. Der breitschultrige Mann packte ihn am Arm. Ihm wurde übel.

Er zuckte zusammen und starrte auf die Zahlen und Linien auf dem weißen Papier. Vorsichtig näherte er sich dem Fenster und zog die Vorhänge zu. Doch der Strahlenkranz durchbrach das matte Blau der Gardinen. Hände schienen sich ihm aus den Strahlen entgegenzustrecken. Er wich voller Entsetzen zurück. Schweißgebadet griff er zur Klinke, schloß die Tür geräuschlos. Hastete über den Flur.

'Wenn mich jetzt jemand sieht.' Dieser Gedanke zerhämmerte ihm die Schläfen.

Im Keller zwischen Gerümpel fand er sich wieder. Als er sich setzte, verrutschte ein Metallteil und gab einen entsetzlichen Klang von sich. Erstarrt verharrte er einige Minuten, lehnte sich zurück und wartete. Kein Traum quälte ihn. Er wachte nicht mehr, doch er schlief auch nicht. In diesem Dämmerzustand drang nur ein monotones Klopfen von irgendwoher. Wie lange er so saß, wußte er nicht. Die Kälte machte ihm zu schaffen und dieses eigenartige Klopfen. Er wollte schlafen, war müde. Aber er fürchtete sich vor dieser Sonne und vor diesem Traum. Endlich wagte er, aufzustehen. Schlich sich aus dem Keller, aus dem Institut und beeilte sich, durch die dunklen Straßen zu laufen. Je dunkler je besser, schien es ihm. Plötzlich sah er einen Lichtstrahl. Dieser fiel auf seinen Arm, aber nur mit halber Kraft.

'Wenn ich weitergehe und wieder diese Sonne sehe ...' Entsetzt wich er zurück. Er hörte wieder ein Klopfen, genau wie vor einer Stunde im Keller. Es war sein Herz, das so schlug.

'Bin ich verrückt? Los Frank, vorwärts!'

Angenehm fiel es ihm auf, daß dieser Name in diese Stadt und in diese dunkle Straße paßte. Frank wagte sich zwei Schritte weiter und atmete erleichtert auf. Der Mond, der stille Begleiter vieler seiner Nächte stand vor ihm in vollster Anmut und Größe. Es schien, als grinse der ihn an.

'Ja, ja lach du nur! Ich wette, du magst die Sonne genausowenig wie ich.'

"Doch ich mag sie."

'Ich muß ins Irrenhaus. Morgen wird man mich hinschaffen.'

Da überholten ihn zwei Männer.

"Sie ist hübsch und gut gebaut", meinte der eine.

"Einen komischen Geschmack hast du ", lachte der andere.

'Jetzt aber nichts wie heim!' nahm sich Frank erleichtert vor.

Seine Frau wunderte sich sehr, als er Pappe vor die Schlafzimmerfenster nagelte und ihr in gebieterischem Ton (das erste Mal, daß er einen solchen Ton in den langen Jahren ihrer Ehe anschlug) befahl, die dunklen Gardinen zu holen und im Schlafzimmer anzubringen. Dabei sah er dermaßen wild und furchtbar aus, daß sie entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten widerspruchslos seinem Wunsche nachkam. Frank legte sich zu Bett und schlief sofort ein. Den Wecker hatte er auf vier Uhr gestellt. Er wollte noch im Dunkeln zur Arbeit gehen.

Als er aufwachte und sich anziehen wollte, hielt ihn nun doch seine Frau zurück.

"Leg dich wieder hin. Immer bist du so auf die Arbeit versessen. Heute ist Sonnabend!"

Er legte sich und zog die Decke straff über seinen Kopf. Zitternd schlief er wieder ein. Und nun packte ihn doch erneut dieser schreckliche Traum.

Frank stand in einem niedrigen, schwach beleuchteten Zimmer. Sein Blick fiel zuerst auf den Tisch. Eine Kerze verbreitete von da ihr flackerndes Licht. Dort lagen Essenreste auf fremdländischem Geschirr. Dann traf sein Blick mit dem schwarzen Augenpaar einer Frau zusammen, die ihr langes schwarzes Haar unter einem Tuch verbarg. An ihrer Brust steckte eine rote Rose. Sie sah traurig auf und ihr entsetzter Blick versetzte ihn in Unruhe. Neben ihr stand eine Wiege aus dunklem, grobem Holz. Das Kind konnte er nicht sehen. Es fiel ihm jetzt auf, daß hier sehr arme Leute wohnen mußten. Über allem lag eine dicke Staubschicht. Er hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt und betrachtete einen zerbrochenen Krug, dessen Scherben rechts neben ihm an der Wand lagen. Ein Stück weiter stand ein Stuhl auf drei Beinen und über dem ganzen Raum hing wieder dieser ekelhafte Fischgeruch. Warm war es, schwül. Ihm trat der Schweiß auf die Stirn. Die Frau starrte ihn unablässig an. Mit der einen Hand begann sie jetzt ihr Kind zu schaukeln. Er wollte sich losreißen von diesem Blick, wollte fliehen. Er machte eine Bewegung. Da warf sich die Frau ihm entgegen. Frank spürte ihren heißen Atem. Sie flüsterte ihm unverständliche Worte ins Ohr. Dann ließ sie plötzlich von ihm ab. Sie wandte das Gesicht zur Wand. Das Tuch hatte sich gelöst und das Haar fiel ihr über die Schultern. Ja, sie war schön. Doch er liebte sie nicht wie ein Mann seine Geliebte liebt. Er liebte sie auf andere Art. Es war seine Schwester.

Ein Mann trat auf ihn zu. Dieser war gleichsam dem Halbdunkel des Zimmers entwachsen. Auch er hatte dunkle, durchdringende Augen. Doch spiegelte sich in ihnen Ruhe. Diese Ruhe tat gut. Sein Gesicht war sonnenverbrannt und faltig. Um seinen Mund zitterte es. Frank erkannte den alten Verkäufer wieder. Der Alte führte ihn zum Tisch, deutete auf einen Stuhl, der schmierig und fleckig war wie mit ™l begossen. Doch Frank setzte sich. Der Mann begann, ihm etwas zu erklären, was er nicht verstand. Er sah nur den Mund des Alten, hörte die für ihn zusammenhangslosen Silben, die leise, ganz leise gesprochen wurden. Dann schwieg der Mann, als erwarte er, daß nun er - Frank - spräche.

"Ich bin Frank", sagte Frank, und wieder fiel ihm auf, daß sein Name nicht hierherpaßte.

"Entschuldigen sie bitte, ich weiß nicht wie ich hierherkomme. Ich war vielleicht schonmal hier, aber ich habe alles vergessen. Lassen sie mich doch bitte in Ruhe. Ich bin Mathematiker, wissen sie. Lassen sie mich gehen, bitte!"

Der Alte schwieg, zog plötzlich ein Messer aus seinem Gurt und legte es auf den Tisch. Dann packte er Franks Hand und drückte sie auf den Messerknauf. Franks Herz zog sich zusammen. Er zitterte. Der Alte trat zu der jungen Frau und legte einen Arm um sie. Sie stand noch immer mit abgewandtem Gesicht.

'Das ist ihr Vater', dachte es in Frank.

'Dann ist er aber auch mein Vater, denn sie ist ja meine Schwester.'

Das Entsetzen schnürte ihm die Gurgel zu. Er warf das Messer auf den Boden und sprang auf. Er wollte hinausrennen, doch er war wie gelähmt. Er starrte auf beide - auf Vater und Tochter.

'Ich hab' mir doch nie etwas zu schulden kommen lassen. Ich war doch immer darum bemüht den Marktwert meiner Person zu erhöhen.'

Die Worte "Marktwert meiner Person" taten ihm wohl, das klang so schön gelehrt, so schön aus seiner Welt, so nördlich ...

'Warum das alles? Ich werde am besten gehen.'

Und er ging langsam bis zur Tür. Da packte ihn eine Hand mit festem Griff ...

Schweißgebadet fuhr er auf. Durch die dunklen Vorhänge schimmerte der Strahlenglanz dieser Sonne. Seine Frau murmelte etwas von "schon zehn Uhr" und ging schnell wieder aus dem Zimmer. Sie sah verängstigt aus. Frank sprang aus dem Bett, raffte seinen Laptop, Taschenrechner, Bleistift, Kugelschreiber und Blätter zusammen, rannte im Schlafanzug in den Keller. Er schloß sich ein. Rechnete wie ein Wahnsinniger. Bearbeitete sinnlose Aufgaben den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch. Verfertigte sinnlose Zeichnungen. Am Morgen des nächsten Tages war ihm alles über. Er warf den Taschenrechner in die Ecke. Nahm nur den Bleistift und den Zeichenblock, rannte in seine Wohnung, zog sich eilends an, zerbrach einige Gläser als er gegen einen Schrank torkelte. Seine Frau wich zurück. Er hörte, wie sie sich im Bad einschloß.

Den Bleistift in der einen, den Block in der anderen Hand, stürzte er ins Stadtzentrum. Wozu er diese Utensilien mitgenommen hatte, wußte er nicht.

'Ich muß diese Leute wiederfinden. Sie müssen hier irgendwo wohnen. Ich habe sie doch gekannt. Sie kamen aus meinem früheren Leben oder aus der Welt meiner Vorfahren? Sie sind hergekommen, mich zurückzuholen. Sie rufen mich. Ich habe Angst vor ihnen. Sie sollen zurückgehen. Mein Platz ist hier in dieser Stadt mit den Hochhäusern, den verstopften Straßen, den Supermärkten. Mein Leben ... Wieviele Leben hat der Mensch? Habe ich vielleicht schon einmal gelebt? Habe ich dort gelebt? Unsinn - Seelenwanderung. Soetwas gibt's nicht. Hab ich gelesen, war genau bewiesen. Gehirnströme ... Psychologie. Ich muß zu einem Psychologen, muß mich analysieren lassen. Irgendwas muß mich in letzter Zeit aufgeregt haben. Ja, danach wird mich der Psychologe fragen. Aber ich habe mich überhaupt nicht aufgeregt. Alles war ruhig und friedlich wie immer. Ich habe meine Arbeit erledigt, pünktlich und genau. ... So führt das zu nichts. Ich muß diese Leute finden, muß sie wegschicken. Ich will nicht mit ihnen gehen. Sie müssen in ihr Land und in ihre Zeit zurückkehren. Das Messer - was sollte ich mit dem Messer? Der Süden ist heiß, da gibt's Leidenschaften, Morde aus Leidenschaft, blutige Rache. Ich sollte vielleicht jemanden rächen. Gut, daß ich zur rechten Zeit geflohen bin.

Ich muß mit den Leuten reden, vernünftig ... Vater und Schwester werd' ich sagen, besser ehemaliger Vater und Schwester oder Vater und Schwester eines meiner früheren Leben ... Ja Sonne, du glutrote Sonne, du bist schuld. Warum konntest du nicht klein und gelb bleiben wie es sich für unseren Norden gehört. Was mußtest du dich aufplustern und rot werden wie das Blut. Blut - Mörder ... Entsetzlich! Also, sag ich, lieber Vater und liebe Schwester ...'

Entsetzt gewahrte er plötzlich, daß die Gesichter der beiden Traumgestalten verschwammen, undeutlich wurden, zu verlöschen drohten.

'Ich muß sie aufhalten, sonst kann ich sie nicht finden.'

Halt! Da fielen ihm der Bleistift und der Zeichenblock ein. Er setzte sich, nicht darauf achtend, wo er saß und begann zu zeichnen. Passanten, die vorübergingen hielten ihn wohl für einen Künstler. Er warf einige Striche aufs Papier. Plötzlich erinnerte er sich daran, daß er früher gern und gut gezeichnet hatte. Oft hatte er mitten auf der Straße gesessen und die Leute angestarrt. Hatte ihm ein Gesicht gefallen, versuchte er, es zu zeichnen, freute er sich, wenn er eine Ähnlichkeit erreicht hatte. Manchmal sah er sich dann abends riesige Kunstalben an. Die Bilder Caspar David Friedrichs, Gauguins - die hatten ihn beeindruckt. In seiner kindlichen Seele waren damals mehr und mehr Bilder entstanden. Er konnte sie gar nicht alle festhalten auf dem Papier. Er lebte in seiner eigenen Welt. Ein ernster Mann und Kunstverständiger prophezeite ihm eine Karriere als Maler. Er hatte damals für einen Augenblick daran geglaubt.

Doch dann erzählte ihm jemand, er sei gut in Mathematik, hätte Talent fürs Technische, müsse etwas in dieser Richtung studieren. Vor allem mit technischen Kenntnissen könne man heutzutage etwas werden. Immer mehr Leute erzählten ihm das. Er glaubte schließlich auch selbst daran, war davon überzeugt, sich eine feste Existenz schaffen zu müssen. Nun lachte er über seine Künstlerträume. Schließlich wurde er Mathematiker und hatte seit über 20 Jahren kein Bild mehr gezeichnet, daß etwas anderes als eine Hyperbel oder Parabel dargestellt hätte.

Als er nun zeichnete, gewannen alte Erinnerungen Macht über ihn. Doch nur für kurze Zeit, denn er mußte sich konzentrieren. Er mußte doch diese Traumgestalten zeichnen. Wie er sich auch bemühte und quälte - es half nichts. Frank stellte fest, daß er eine ganze Menge ihm aus diesem Leben recht bekannter Personen gezeichnet hatte - seine Frau, seine Tochter, seine jetzigen Eltern, seinen Nachbarn, mit dem er ständig in Streit geriet ... Wütend malte er mehr und mehr. Aber welche Gesichter er auch ersann, alle entstammten sie seiner täglichen Umgebung. Er versuchte, wenigstens die Karawane zu entwerfen. Endlich glaubte er, eine der Traumgestalten getroffen zu haben. Er sah genauer hin, seine Augen wurden starr. Er hatte sich selbst gezeichnet, wie er an der Spitze der Karawane in eine fremde Stadt einzog.

Da stand er auf, rannte ein Stück. Setzte sich wieder, zeichnete. Stand wieder auf. Verzweiflung hatte sich seiner bemächtigt. Er befürchtete, er könne seinen Vater und seine Schwester aus der Vergangenheit nicht wiederfinden. Als die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand, hatte er das letzte Blatt seines Blockes verbraucht. Erschöpft sank er zusammen, ihm wurde bewußt, daß er in einem fremden Garten auf einer Bank saß. Es war ihm unverständlich, wie er hierhergekommen war. Die Nacht war lau. Er streckte sich auf der Bank aus. Er wollte diesen Traum wieder, wollte Vater und Schwester wiedersehen, er mußte sie finden, mußte sie zeichnen. Aber er fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf. Es war noch ganz dunkel, als er erwachte. Frank lauschte mit offenen Augen in die Nacht.

'Was soll ich tun? Was wird nun werden? Wo bin ich überhaupt?'

Schließlich schlief er gegen Morgen erneut ein und endlich träumte er. Seine Schwester stand am Strand eines großen leuchtenden Meeres. Ihre braunen Füße hoben sich von dem weißen Sand ab. Sie trug ihr Kind auf dem Arm. Der Vater war ein Stück ins Wasser gewatet, um ein Boot an Land zu ziehen. Plötzlich lief auch sie zu dem Boot. Er sah, wie sich ihr schwarzes Haar im Wind bäumte.

'Sie ist schön', dachte er wieder.

Der Vater nahm die Ruder. Dann stieg er noch einmal aus, trat auf Frank zu, spuckte ihm ins Gesicht, stieg wieder in sein Boot und brachte dieses mit kräftigen Schlägen vom Ufer weg. Frank stand und sah ihnen hinterher bis das Boot am Horizont verschwand. Er sah sich um, vor ihm lag eine glühende Ebene, eine Wüste. Er preßte sein Gesicht auf die heißen Körner und ... erwachte. Ein kleines Kind sah ihn strafend an. Es stand da mit einem Spaten und wollte im Sandkasten spielen. Frank fuhr auf. Ein Stück entfernt neben einer Bank sah er weiße Blätter liegen. Seine weißen Blätter! Frank raffte die Blätter zusammen, rannte bis zur nächsten Straßenecke, winkte einem Taxi, nannte seine Adresse. Furchtbar mußte er aussehen, denn der Fahrer beobachtete ihn die ganze Zeit im Rückspiegel. Schnell schloß er die Augen, spürte eine eigenartige Wärme, und schon war er vor seinem Haus. Mechanisch bezahlte er, stieg aus, warf einen Blick auf die Bilder, Scham und Angst überkamen ihn. Jedes Bild zerriß er einzeln in kleine Stücke, die er in die Mülltonne warf. Seiner Frau sagte er etwas von Überarbeitung und Sonnenstich. Die Arme hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und machte ihm nun schnell einen Kaffee. Frank sah aus dem Fenster. Jetzt wagte er, sich die Sonne anzusehen. Gelb und blaß lachte sie von einem wasserblauen Himmel.

'Na, da wären wir wieder zu Hause.' Sein Herz wurde vor Freude weit.

"Schönes Wetter heute, wie wär's mit einem Ausflug?" wandte er sich an seine Frau.

"Du mußt doch zur Arbeit", entgegnete sie zaghaft. "Du kommst bereits zu spät."

"Es ist das erste Mal in all den Jahren."

Er erhob sich lächelnd, während er seine Tasche packte, beschäftigte es ihn doch wieder, warum ihm wohl der Mann ins Gesicht gespuckt haben mochte. Er hatte das Gefühl, diese Frage nicht mehr loszuwerden, aber er haßte sinnlose Grübelei.

Dann nahm er die Autoschlüssel und ging. Grüßte auf der Treppe freundlich wie seit langem nicht seinen Nachbarn - Anton - den er in Gedanken plötzlich scherzhaft Antonio nannte. Ein kleiner Sonnenfleck huschte über die Treppe.



  

Der Wolf

Oster-Anthologie Glocken läuten wieder hellerDer Wolf



Der Wolf

In: Oster-Anthologie 1993 "Glocken läuten wieder heller". 
edition haag (hg. v. H.-A. Herchen). Haag + Herchen, Frankfurt a. M. 1993



1.

René stand in jener Mondnacht wieder am Fenster und lauschte in die Stille hinaus. Da war es wieder, jenes Heulen. So konnten nur Wölfe heulen. Immer wurde er unruhig in solchen Nächten. Immer zog es ihn hinaus. Seine Frau schlief. Er zog sich langsam an. Ihn fröstelte. Zuerst fröstelte ihn immer. Dann verließ er langsam die Wohnung.

Vollmond. - Ein rotgefärbter Vollmond. Da mußten ja die Wölfe heulen. Wo würde er ihn diesmal suchen müssen? Wieder im Wald? Im Park vielleicht? Es war ein schöner Wolf. Sehr stark. Mit schwarzem glänzendem Fell und dunklen Augen. Die Augen - ja besonders die Augen hatten es ihm angetan.

Manchmal mußte er ihn rufen. Tatsächlich - der Wolf hatte einen Namen.

Diesmal irrte er umsonst umher. Er war nicht da. Traurig schlenderte er an den Kneipen vorbei. Drinnen saßen in verrauchten Zimmern rauchende Männer. Der Wolf haßte Rauch. Hier würde er ihn nicht finden. Aber er würde warten. Auch, wenn er die ganze Nacht warten mußte. Im Park. Vielleicht würde er doch in den Park kommen.

Er saß nun schon seit zwei Stunden auf der Bank. Die Unruhe war stärker geworden. Das Heulen drang immer deutlicher an sein Ohr. Gleich mußte er dasein. Tatsächlich. Aber, was war das? Das war nicht sein sanfter, gutmütiger Wolf, das war ein riesengroßes Raubtier. Nein - die Augen, die Augen verrieten ihn. Es war sein Wolf. Knurrend lief der um René herum. Beschnupperte ihn. Stieß ihn an. Viellicht würde der ihn heute in das Mysterium einweihen. Mit einer Kopfbewegung forderte ihn der Wolf auf, auf seinem breiten Rücken Platz zu nehmen. In rasendem Tempo ging es nun Richtung Wald. Aber nein - das war kein Wald, sondern ein See. Genaugenommen konnte man es auch als Meer bezeichnen. Schneller, schneller mein Wolf!

Plötzlich bekam er Angst. Immer bekam er Angst, wenn sie sich der riesigen Feuerstelle näherten. Er sah das Feuer - und ließ sich mit einem Ruck vom breiten Rücken seines Begleiters fallen. Er fiel ins feuchte Gras. Ihn fröstelte. Langsam stand er auf. Der Wolf sah ihn an, knurrte unwillig und verschwand.


2.

"Wirst du dich nun von deiner Frau scheiden lassen, oder nicht? Vor allem, warum willst du dich scheiden lassen?"

Immer wieder mußte die Kollegin auf dieses für René so unerquickliche Thema zu sprechen kommen. Er sah zum Fenster hinaus. Sein Büro lag im 10. Stock des Hauses, das sich die Versicherungsfirma, bei der er arbeitete, mitten im Stadtzentrum gekauft hatte. Allerdings stellten die Planer zu spät fest, daß man sich verkalkuliert hatte. Das Stadtzentrum war nun eigentlich schon nicht mehr Zentrum. Ziemlich rasch verlagerte sich dieses nämlich auf beinah gespenstische Weise und man befand sich nun quasi am Stadtrand.

"Ich habe es mir fest vorgenommen. Aber immer, wenn ich mir sage 'Morgen gehst du hin, morgen reichst du die Scheidung ein', dann versage ich im entscheidenden Moment."

"Man darf sich solche Sachen nicht zu schwer machen. Entweder man geht auf sein Ziel zu und setzt es durch. Oder man läßt es bleiben. Was sagt sie eigentlich dazu?"

"Ich habe es ihr ja noch nicht einmal gesagt. Mir fehlt ganz einfach der Mut."

"Dann mußt du eben bei ihr bleiben. Ich verstehe auch wirklich nicht, warum du dich scheiden lassen willst. Sie ist so eine hübsche Frau. Was hast du denn? Wenn du dich übrigens schon scheiden lassen willst, warum gehst du dann nicht mal mit mir aus? Ich zieh auch extra das blaue Minikleid an."

"Mal sehen ..." Warum war sie nur immer so aufdringlich. Aber er konnte ihr einfach nicht die Wahrheit sagen ...

René war es plötzlich als sei der Blick jenes dunklen Wolfes auf ihn gerichtet. Fletschte der nicht die Zähne? Er zog rasch wieder das Foto aus der Tasche. Das Foto, das niemand sehen durfte. Es war, als ginge eine Zauberkraft von jenem Foto aus. Es gab ihm seinen Mut zurück

"Was hast du denn da? Zeig mal!" Petra war neugierig geworden.

Da war er wohl zu unvorsichtig gewesen.

"Es ist nichts. Wirklich. Nur, nur ein Wolf ..."

"Ein Wolf?" Sie sah ihn ungläubig an. Schnell steckte er das Bild in die Tasche seines Jackets zurück.

"Wieso schleppst du Bilder von Wölfen mit dir rum?"

"Ich mag sie."

"Ich nicht. Ich graule mich vor ihnen. Sie sind blutrünstig."

"Das ist ein Vorurteil."

"Du immer mit Deinem 'Das ist ein Vorurteil!'" Petra sprach es langgezogen mit besonderer Betonung aus. Vielleicht benutzte er ja das Wort Vorurteil wirklich zu oft. Aber er benutzte es, um es zu bannen, denn das Wort schreckte ihn.

"Na, dann zeig mir doch das Tierchen mal!" forderte Petra ihn nun doch nachdrücklich auf.

"Ach, laß mich in Ruhe!"

Erregt stand René auf. Er ging zum Fenster und beobachtete die untergehende Sonne. Rot und glühend versank sie im Häusermeer. Es sah beinahe so aus, als versinke sie direkt im Stadtzentrum.

"Schade, daß wir nicht mehr im Zentrum sitzen", sagte er zu Petra, um sie vom vorherigen Gesprächsthema wegzubringen.

"Was soll es. Hier ist es ruhiger. Man hat das Gefühl, als wär hier weniger Hektik. Zentrum, Zentrum. Ich geh' wieder. Machs gut ... und überlegs dir ... vielleicht morgen abend?"

"Also dann!".

Noch eine Stunde, dann könnte auch er gehen. Heute wollte er sich wappnen. Der Wolf durfte ihn diesmal nicht erschrecken. Er mußte das Mysterium lösen. Er fühlte, daß er sich dann nicht mehr fürchten würde. Nie mehr.

Zuweilen plagte ihn eine furchtbare Angst. Dann raste sein Herz. Raste, daß er glaubte, es werde ihn zurücklassen, es werde durch den Raum rasen, ohne ihn. Nur das Herz würde dann noch dasein. Er würde im Nichts vergehen. Er lauschte. Jetzt, da er allein war, schlug es besonders stark.

Das Telefon klingelte. Er ging zum Tisch. Steckte sich dabei eine Zigarette an. Er suchte in der Jackentasche nach Streichölzern. René bemerkte nicht, wie ihm dabei das Foto aus der Tasche fiel. Nun lag es mitten im Zimmer.

Petra kam zurück. Hob es auf. Erstarrte erst. Lachte dann los. Schüttelte den Kopf. Wurde ernst. In ihrem Gesicht spiegelte sich Ekel wider.

"Kein Wunder! Erzählst mir Geschichten von Wölfen. Gut, ich dachte du bist zum Tierfreund geworden, der eine liebt Kaninchen - du Wölfe, was soll's? Aber das ist ja total pervers. Das ist das Letzte! Da steht ja hinten sogar was drauf ... von ... Du lieber Himmel. So ist das also mit dir! Na, danke! - jetzt wird mir alles klar!"

Sie stürzte aus dem Raum. Das Foto trug sie weit vorgestreckt halb angewidert, halb schadenfroh vor sich her.

'Na prima', dachte René, 'Nun ist alles aus.' Die Angst steigerte sich ins Maßlose. Endlich Dienstschluß. Kollegen, die er traf, sahen zur Seite. Taten, als bemerkten sie ihn nicht. Oder schien es ihm nur so? Er rannte den Gang hinunter.

Zitternd ging er durch die Straßen. Es dämmerte. Die Schaufenster zerstrahlten das bißchen Wärme. Bunte, kalte Wunderwelt. Doch da - tatsächlich. Da spiegelte sich sein Begleiter der letzten Nacht in der Scheibe. Der Wolf war zurückgekehrt. Der schien ihn bitten zu wollen, ihm zu folgen. René folgte. Er war außer Atem, hatte aber das Gefühl, daß ihn seine Beine schneller trugen, als es sein Körper eigentlich vermochte. Eine unsichtbare Kraft trug ihn. Sie erreichten den Wald. Es ging durchs Dickicht. Endlich standen sie vor einer Lichtung. Da waren noch mehr Wölfe. Viele, sehr viele. Sie bildeten einen Kreis. Im Kreis brannte ein Feuer. Strahlte hell wie eine Sonne. Sein Wolf versuchte, ihn in den Kreis zu drängen. Er sträubte sich. Die übrigen Wölfe fletschten die Zähne. Er trat in den Kreis ein. Es schien, als würden sich die Tiere nun beruhigen. Dann sah er auf seinen Wolf. der stellte sich auf die Hinterpfoten und brüllte. René glaubte zu begreifen. Er sollte sich innerhalb des Kreises bewegen. René begann zu laufen. Immer nah am Rand. Die Tiere schienen ihn weiter in die Mitte des Kreises drängen zu wollen. Weiter dem Feuer zu, das wie eine Sonne leuchtete. Manchmal kam er dem Mittelpunkt sehr nah, dann durchfuhr ihn eine herrliche, wohltuende Wärme. Aber er hatte immer noch Angst. Die Angst zog ihn vom Feuer weg. Er drängte die Tiere zurück, drängte zum Rand des Kreises. Endlos schien diese Prozedur anzudauern. Immer wieder hin zur Mitte. Immer wieder weg von der Mitte. Der Kreis wurde größer. Er drängte die Wölfe immer weiter zurück. Weiter fort vom Feuer. Endlich öffnete einer den Kreis. René hatte das Gefühl, als werde er herausgeschleudert aus der Wärme. Es schien, als wären da hundert fremde Kreise, die ihn anzogen. Magisch anzogen. Da loderten auch Feuer. Aber fremde Feuer.

Noch einmal schrie sein schöner schwarzer Wolf laut auf. Dann wurde es ganz still. Die Wölfe verschwanden. Der Kreis verschwand. Auch das Feuer. Nur einmal noch sah ihn sein Wolf durch die Bäume hindurch an. Es schien, als sei er traurig. Aufgewühlt gelangte René zu Hause an. Er wagte wieder nicht zu seiner Frau von der Scheidung zu sprechen, über sich zu sprechen.


3.

Sein Chef hatte ihn zu sich bestellt. Der sah sehr wütend aus, zwang sich aber zur Ruhe.

"Setzen Sie sich bitte", sagte er barsch. "Soetwas hätte ich nicht von Ihnen erwartet. Sicherlich entläßt man deswegen heute niemanden mehr. Aber sie hätten dieses Foto ja auch nicht allen zeigen müssen. Noch dazu mit Aufschrift. Wenn Sie wenigstens mit mir einmal darüber gesprochen hätten, dann wäre ja auch alles halb so schlimm. Aber wie stehe ich jetzt da. Ich wollte Sie zum Abteilungsleiter machen. Das wird ja nun jetzt nichts mehr."

"Sie haben sicher recht. Ja, sicher. Es war ein Fehler. Wäre die Aufschrift nicht gewesen ..."

"Ja, natürlich. Dann hätte sich womöglich keiner was dabei gedacht. Nun sind Sie zum Gespött der ganzen Truppe geworden. Wenn Sie nur nicht so feige gewesen wären, es die ganze Zeit geheimzuhalten. Nun ist der Jagdtrieb in den Leuten erwacht. Die Angst des Tieres reizt die Räuber ... Mann, ich schätze Ihre Arbeit. Aber das hier, das hat mich sehr erschüttert. Nun, wir werden weitersehen."

René verließ den Raum. Wieder schien jeder, dem er begegnete, über ihn zu lachen, zu lästern, sich lustig zu machen. Wie er sie alle haßte! Wieviel Angst er vor ihnen hatte!"

Da faßte er einen Entschluß. Er mußte unbedingt wieder in den Wald. Mußte zu den Wölfen. Mußte, ja mußte wieder ins Feuer ... Er spürte es genau - nur das Feuer würde ihn retten. Er wartete den Dienstschluß nicht ab, fand den Weg wieder, fand auch die Wölfe. Es schien als hätten sie bereits auf ihn gewartet. Sie drängten ihn in den Kreis, immer näher dem Feuer zu. Er stand in der Mitte des Kreises. Ihm war, als drehe er sich in rasend schneller Bewegung, als erhebe sich ein wunderbarer Chor aus tausend und abertausend Stimmen ...

Fester, immer fester drückte René seinen Freund, seinen Geliebten an sich. Er spürte dessen Wärme, den heißen Atem auf seiner Haut. Ihm war schwindlig vor Glück.

"Wenn ich bei dir bin, dann bin ich eigentlich nur richtig bei mir", sagte er zu Maik und lächelte ihn an.

"Übrigens muß ich dir etwas erzählen. Ich habe in letzter Zeit so sonderbare Visionen. Ich sehe immer Wölfe, vor allem einen schönen, schwarzen, der mich immer zu einem bestimmten Ort führen will. Da ist ein Kreis. In der Mitte brennt ein Feuer. Drumherum sitzen Wölfe. Die wollen, daß ich in die Mitte gehe. Ich habe aber Angst. Sie bedrängen mich. In der Mitte geht es mir gut. Ich habe Angst, weiche an den Rand aus. Magisch ziehen mich andere Kreise an. Aber einmal, einmal war ich in der Mitte. Es war herrlich. Es war so schön, so schön wie eben mit dir. Kannst du dir erklären, was das bedeuten könnte?"

"Du weißt es nicht? Na klar, kann ich es erklären." Maik strich sein schönes schwarzes volles Haar nach hinten und sah den Freund liebevoll an. Es tat René gut, in Maiks Augen zu blicken.

"Also der Kreis - das ist dein "ICH". Wenn Du Dich im Zentrum des Kreises befindest, bist du frei und Du bist stark und Du bist gefeit gegen alle Dinge, die Dir etwas anhaben könnten."

Weißt Du, warum im Märchen die Leute immer einen Kreis um sich ziehen, in deren Mitte ihnen niemand - weder Geister, noch Dämonen - etwas anhaben kann ...?"

"Ich beginne zu begreifen ... "

"Ja, Du verstehst es richtig, sie befinden sich in ihrem Mittelpunkt. Niemand kann ihnen dann etwas anhaben."

"Und wer aus seinem Mittelpunkt fällt?"

"Der rotiert entweder am Rand, da hat er noch Hoffnung in den Mittelpunkt zurückkehren zu können. Aber, es kann auch sein, daß er außerhalb seines Kreises gerät, da eine andere starke Person, die stark in ihrem Mittelpunkt verankert ist, ihn mit magnetischen Kräften anzieht. Er verliert sich, gibt seinen Willen auf. Den kann man dann ausnutzen."

René schien es erneut, als ob sich alles um ihn herum zu drehen begänne. Er klammerte sich an den Freund. Die drehten sich eine Weile in einem riesigen Kreis. Sein Herz schlug laut und froh. Dann war ihm für einen Moment als wären sie beide im Wald und um sie herum säßen die Wölfe. Jener dunkle Wolf sah ihn mit einem Lächeln an.

"Weißt du Maik, ich glaube, wenn ich mit dir zusammen bin, dann finde ich jedesmal meinen Mittelpunkt. Ich möchte ihn nicht mehr verlieren."

Er strich dem Freund über das mattglänzende schwarze Haar.

"Morgen sag ich meiner Frau die Wahrheit. Dann hat auch ihre Qual ein Ende und ich reiche die Scheidung ein."

Es war, als sei er zum zweiten Male geboren worden.



  

Lebensbilder

Wir schreiben. AnthologieLebensbilder



Lebensbilder

In: Wir schreiben. AutorInnen stellen sich den Medien vor. 
edition haag (hg. v. H.-A. Herchen). Haag + Herchen, Frankfurt a. M. 1994




Silvio wollte seinen Teddy wiederhaben. Zum dritten Mal schon umrundete er den Teich, in dessen Mitte Teddy Edgar mit vor Schrecken weit aufgerissenen Glasaugen herumschwamm. Silvio begann, zu weinen. Dicke Tränen rannen ihm in breiten Strömen über die dicken Bäckchen. Mit dem Stock müßte es doch gehen. Aber er war zu klein, hätte er etwas längere Arme, etwa so wie Vati, wäre es wohl gegangen, so gelang es jedenfalls nicht.

Der Teddy drohte inzwischen ins Schilf abzutreiben. Er ragte noch zu einem kleinen Teil aus dem Wasser. Es würde nicht mehr lange dauern und er würde auf dem Grund des Teiches landen.

„Mein armer, armer Teddy", heulte Silvio. „Ich werde dich retten. Du darfst nicht untergehen."

Ohne zu überlegen, platschte er mit seinen dicken Beinchen ins Wasser. Hier war es flach ... Aber ... Was sollte das? Irgend etwas schien ihn nach unten zu ziehen. Dabei war er dem Teddybären schon beträchtlich nahe gekommen. Er hustete. Wasser schwappte in seinen Mund.

Wo war er?

Er war in einer Schule. Aber eigentlich ging er doch noch gar nicht zur Schule. Nur seine Schwester Anne, die hatte ihn einmal mitgenommen. Ob Anne hier war? Nein, nein ... Das war nicht die Schule der Schwester. Und er ... er war auch nicht mehr so klein. Er war gewachsen. Ja - tatsächlich, er war beträchtlich größer geworden. Das sollte ihn freuen. Aber ihn ärgerte irgend etwas in dieser Schule. Da waren Kinder, die lachten über ihn. Eine Junge stieß ihn an. Das war gemein. Gleich würde er zurückschlagen. Aber schon umringten ihn die anderen. Wie sollte er da zurückschlagen? Lieber nichts tun. Lieber ganz ruhig aus ihrem Kreis schleichen.

Silvios Kopf tauchte aus dem Wasser auf. Er schnappte nach Luft. Nun sah er den Teddy beinahe genau vor sich. Das eine Glasauge sah ihn flehend an.

„Na warte nur, Teddy, ich hole dich ja."

Erstmal an dem Ast der Weide festhalten. Papi hatte zu ihm gesagt, es sei eine Weide. Er hatte es sich so gut gemerkt, weil er nicht begreifen konnte, wie eine Weide hier ein Baum sein konnte, wo sie doch eigentlich etwas war, worauf die Pferde grasten. Einmal sagte nämlich der Opi zu einer Wiese Weide. Wirklich sehr komisch. Der Zweig brach allerdings ab, und wieder schwappte das bittere und fürchterlich riechende Wasser in seinen Mund hinein.

Nun war er aber schon wieder ein Stück gewachsen. Er spürte genau, daß er sehr stolz auf seinen Bart war, auf das bißchen auf seiner Oberlippe sprießenden Flaum. Und da war dieses Mädchen. Das Mädchen hielt seine Hand in der ihren und näherte ihren Kopf immer mehr seinem Gesicht. Er fürchtete sich und wollte eigentlich seine Hand aus der des Mädchens befreien.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ein heller Lichtstrahl traf beide. Da standen die anderen - etwa zehn Leute. Alle lachten. Auch das Mädchen. Warum lachte auch sie? Eben noch hatte sie ihn so ernst angeschaut. Oder war dieser Ernst nur ein funkelndes, verstecktes Lachen gewesen?

„Na, Silvio, hat es wieder nicht geklappt?"

Ein großer stämmiger Bursche trat heran und packte ihn am Hemdkragen. Er bekam kaum noch Luft.

„Du weißt was passiert, nicht wahr? Wenn es wieder nicht klappt, mußt du Buße tun. Das haben wir dir doch erklärt, oder?"

Wieder lachten alle, lachten und starrten ihn lange an.

„Sachen runter!" schrie der Dicke.

Silvio wollte sich mit zitternden Händen das Hemd aufknöpfen, doch die versagten ihm den Dienst.

„Na, dann wollen wir dir mal helfen!"

Der Dicke winkte zwei andere, kräftige Jungen zu sich heran. Silvio zitterte.

Sein Kopf tauchte aus dem Wasser auf.

Sonderbar sah das unter Wasser aus. Irgendwelche grünlichen Schlingen waren da und eine Unmenge kleiner schillernder Fischchen. Nun fühlte er kaum noch Grund unter seinen Füßchen, auch war ihm furchtbar kalt. Aber irgendwie schien der Wind ein Einsehen zu haben und den Teddy nun auf ihn zuzutragen. Wenn er sich nur mit der einen Hand irgendwo festhalten könnte, vielleicht wäre es dann möglich, mit der anderen den Teddy zu greifen. Da rutschte er auf etwas aus.

Er saß in einem weichen Sessel. Schön war das. Das Licht nicht zu grell. Er war sich bewußt, daß er gut aussah. Aus irgendeinem Grund wollte er gut aussehen.

Vor ihm auf dem Tisch lag eine rote Rose. Er nahm sie jetzt in die Hand. Er erinnerte sich, daß er sie heute schon mehrmals in die Hand genommen hatte. Eine wunderschöne, herrlich duftende Rose. Jetzt, da er sie erneut betrachtete, durchströmte ihn wieder jenes angenehme, prickelnde Gefühl. Seine Rose. Silvios Herz begann schneller zu schlagen.

Jemand kam zur Tür herein und setzte sich neben ihn. Jemand nahm seine Hand und streichelte sie ganz zart.

„Hast du Angst? Ich hatte auch Angst beim ersten Mal."

Silvio spürte den heißen Atem des anderen. Er ließ die Zärtlichkeiten mit geschlossenen Augen über sich ergehen. Nun sah er Johannes an. Johannes - ein älterer Mann mit wunderschönen blauen Augen, strohblondem Haar und einem jungenhaft spitzbübischen Lächeln. Und Silvio konnte es immer noch nicht glauben, daß er gemeint war, wenn der andere leise sagte:

„Ich liebe dich."

Sein ganzes Wesen war von diesen Worten angefüllt bis zum Rand. Er wollte sich dem anderen hingeben. Jetzt. Irgendwo im Herzen war aber Angst, starke unbezähmbare Angst. Der andere knöpfte Silvios Hemd auf und streichelte seine Brust, Silvio mußte sich zusammennehmen. Er wollte keinen Ton von sich geben, denn damit hätte er die Weihe unterbrochen. Wie eine Weihe kam es ihm vor. Eine Einweihung in ein für sein Leben so wichtiges Mysterium.

„Du darfst keine Angst haben. Du mußt ganz locker sein. Ich werde nichts tun, was dir nicht gefällt."

Er spürte die nackte Haut des anderen auf der seinen. Spürte dessen rauhe Lippen an seinem Hals, seinen Schultern, seinem Bauch. Vorsichtig entkleidete ihn Johannes. Silvio empfand nie gekannte Glückseligkeit.

Silvio hatte endlich den Ast der Weide wieder umklammern können. Auch den Teddy konnte er nun an einem Bein packen. Allerdings hatte sich das Stofftier irgendwo auch selbst festgehängt - wahrscheinlich, um nicht unterzugehen.

„Dummer Bär", sagte Silvio tadelnd.

„Wie soll ich dich denn so retten?"

Nun sah Silvio an sich herunter. Seine Haut war sonderbar runzlig. Seine Hände zitterten. Ja, sie zitterten schon seit ein paar Jahren.

In den zitternden Händen hielt er ein Bild. Ein Mann war darauf zu sehen. Ein, im Vergleich mit Silvio, ziemlich junger Mann.

Den hatte er einst geliebt. Dann war er für immer gegangen. Dann war noch mancher gekommen, aber nur für einen Augenblick, so kurz wie ein Vogelschlagen.

„Ach, Johannes, wenn du noch da wärst. Du würdest vielleicht nicht so zittern wie ich jetzt. Wahrscheinlich würdest du mich sogar auslachen."

Er strich vorsichtig mit der Fingerkuppe über das Bild.

„Ja, ich werde heute kommen und dir eine Rose bringen. Eine, wie du sie mir damals gegeben hast. Damals. Ins Krankenhaus brachte ich dir auch immer Rosen. Erinnerst du dich noch. - Diese verdammte Krankheit!"

Er lauschte nach draußen. Da rannten wieder die Jugendlichen unter seinem Fenster herum und riefen. Er wußte, was sie riefen. Er hatte es ja nie verheimlichen wollen. Früher konnte er sich wehren. Aber jetzt ... Er war zu alt, um sich zu wehren.

Aber sie sollten sehen, daß er kein Feigling war und Johannes sollte schließlich seine Rose bekommen.

Gebückt trat er aus dem Haus. Aufrecht ging er an den Jungen vorüber. Die Kinder umringten ihn und grölten, aber er nahm es nicht mehr wahr.

Er schnitt eine Rose ab und wußte, daß sie ihm dahin, wo er jetzt hingehen würde, nicht folgen würden.

Der Weg zum Friedhof führte durch eine dunkle Allee, hier kam er auch an einem See vorbei. Ihr See. Hier waren sie früher so oft gerudert. Wie Johannes immer lachte, wenn er Angst vor dem Wasser hatte, wenn sie mitten auf dem See waren und das Ufer so fern schien.

„Nein, Johannes, nun habe ich keine Angst mehr vor dem Wasser. Soll ich es dir beweisen?"

Er sah dabei die Rose an und wußte, daß sie seine Worte dem Freund übermitteln würde.

Er ging die paar Schritte zum See. Schon waren seine Füße ganz durchnäßt. Warum nur lief er weiter? Warum nur blieb er nicht stehen?

Etwas zog ihn hinaus. Ins Wasser.

Aber noch einmal blieb er stehen. Er sah wieder die Rose an, streichelte sie zärtlich und flüsterte:

„Es war trotzdem schön. Es war doch schön. Nichts hätte anders sein sollen. Nichts!"

Er klammerte sich an einem Ast fest, der sich unter Wasser befand. In der Tiefe erblickte er einen dunkelroten Fleck. Er ließ den Ast los.

In diesem Moment packte Silvio ein starker Arm und zog ihn aus dem Wasser.

Sein Vater war ganz aufgeregt. Der Teddy - zum Glück hatte er auch den Teddy aus dem Schilf befreit. Glücklich hielt ihn Silvio in den Armen.

Er hörte wie der Vater schimpfte, wie er ihn ein ums andere Mal an sich preßte und etwas stammelte, was wie .Mein Gott, mein Gott" klang.

Und Silvios Vater konnte sich absolut nicht erklären wie sein dreijähriger Sohn darauf antworten konnte:

„Es war schön. Es war doch trotzdem schön."



  

Schicksal

Wir schreiben. AnthologieSchicksal



Schicksal

In: Wir schreiben. AutorInnen stellen sich den Medien vor.
edition haag (hg. v. H.-A. Herchen). Haag + Herchen, Frankfurt a. M. 1994



1.

Sein Auftritt auf der internationalen Philosophiekonferenz war bisher recht erfolgreich gewesen. Sein Referat widmete er dem Freiheitsbegriff. Dabei verwandelte er Freiheit in Schicksal und bewies schließlich beider Identität. Noch jetzt klang in ihm der Beifall für seine Argumentation nach.

Nun wartete er auf seine Schicksalsgöttin. Diesmal wartete er bereits recht ungeduldig auf sie.

Natürlich war sie keine Göttin, sondern hieß einfach Hannelore und war die Frau aus seinem Fachbereich, die es immer wieder schaffte, an fast allen Konferenzen teilzunehmen. Da ihm dies meistens ebenfalls gelang, waren sie ein beinah festgefügtes Duo, und sie hatte schon sehr oft für ihn im rechten Moment Schicksal gespielt. - Damals in jener Bar in Florenz, als der junge Italiener mit den halblangen schwarzen Haaren ihm zunickte, ihn anlächelte, und er nahe daran war, diesem freundlichen Lächeln hinter eine in freundliches Grün gehüllte Tür zu folgen, war sie erschienen. Sie bewahrte ihn davor, abzuweichen von seinem Lebenspfad und sich in Gefahr zu begeben.

Als er die Professorenstelle erhielt, entschloß er sich, ein vollkommener Asket zu werden. Asketentum sollte seinen Geist befreien, ihm die Möglichkeit geben, die unendlichen Weiten des menschlichen Geistes zu durchmessen. Askese sollte ihn vor allem vor unliebsamer Auseinandersetzung mit der seinesgleichen feindlich gesinnten Umwelt schützen.

So war Hannelore für ihn zur willkommenen Schicksalsgöttin geworden, tauchte sie doch mit konstanter Regelmäßigkeit in den Momenten auf, wenn er kurz davor war, vom Pfad der Tugend abzuweichen und sich an den Rand eines Abgrunds zu begeben. Damit wurde das Schicksal für ihn zu einer Freiheitsgarantie.

Aber heute nun ließ ihn jene das Schicksal repräsentierende Gewalt völlig unerwartet im Stich. Er saß schon seit über einer Stunde im Hotelrestaurant und wartete auf ihr Erscheinen. Sie hatte ihm nicht direkt versprochen, mit ihm zu Abend zu essen - das tat sie freilich nie -, aber sie war noch immer gekommen. Dafür hatte vor einer halben Stunde am Nebentisch ein junger Mann Platz genommen, schlank, mit dunklem Haar und dunklen Augen. Der sah zu ihm herüber und Gerd war unvorsichtig genug gewesen, in diesem Moment nicht wegzuschauen. Daraufhin überkam ihn ein sonderbares Gefühl in der Magengegend, die sich konvulsionsartig zusammenzog und plötzlich unkontrollierte Reflexe an alle Empfindungszentren seines Körpers sandte. Erschrocken ließ er seinen Blick erst einmal zu dem schönen Kronleuchter schweifen, von dem das falsche Kristall in großen Tropfen herabhing und dennoch angenehm funkelte. Die Welt will eben betrogen sein. Doch hielt es seinen Blick da nicht lange und unwillkürlich schweifte er unglücklicherweise völlig unkontrolliert wieder zum Nebentisch. Der junge Mann sah auch schon wieder oder immer noch in seine Richtung, was Gerd veranlaßte sich seinem nun allerdings leeren Teller zuzuwenden. Als er feststellte, daß es darauf nichts mehr zu tun gab, begann er mit der Zigarettenschachtel zu spielen. Sich mühsam einen gelangweilten Gesichtsausdruck kreierend, hob er nun von unten den Blick und traf abermals mit dem lächelnden Augenpaar des Mannes zusammen, der ihm bereits als ernsthafte Bedrohung erschien.

Gerd wandte den Kopf zur Tür. Seine Schicksalsgöttin war nicht zu sehen.

Der andere schien auch verlegen und unsicher, wurde nun gar rot, was Gerd wieder zu jenem glühendem Stich in der Magengegend verhalf und nun schon eine beträchtliche Herausforderung für seinen kühlen, klaren Verstand darstellte, der sich bisher nie seiner Kontrolle entzogen hatte.

Er sah sich um. Keine Hannelore - aber die Gefahr der Hoffnung, daß sie noch kommen würde, bestand weiter.

Ob er wohl für einen Augenblick hinübergehen sollte? Man konnte nach Zigaretten fragen. Aber nein, die hatte er ja selber. Er hätte die Schachtel lieber zur rechten Zeit verschwinden lassen sollen.

Gerd wagte einen erneuten Blick hinüber und stellte enttäuscht fest, daß der andere nunmehr mit der Menükarte beschäftigt war. Wenigstens konnte er ihn jetzt in Ruhe betrachten. Dunkle Hosen, helles Hemd, der Kragen geöffnet, schlank und doch kräftig.

„Würde er diese Nacht mit mir verbringen oder nicht?"

Wo blieb nur Hannelore? Warum befreite ihn keiner aus dieser quälenden Unentschlossenheit. Sein Herz begann sich rascher und rascher zu bewegen, verließ den gewohnten Rhythmus, und die ungewohnt hohe Pulsfrequenz trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Seine Hand konnte das Weinglas nicht mehr ruhig halten.

„Schließlich kann man einfach nach der Uhrzeit fragen", entschied er sich plötzlich für einen uralten Trick. Er stand auf.

In diesem Moment aber erschien sie. Seine Schicksalsgöttin. Sie kam im hellblauen Minikleid mit glänzendem offenen Goldhaar auf ihn zu. Er erstarrte und fand den Stuhl hinter sich nicht mehr, um sich darauf niederzulassen. Doch das Schicksal rauschte an ihm vorbei und erwies sich nicht als Hannelore, sondern als fremde Frau mit Ehemann und Gefolge.

Jetzt, da er stand, sah ihn der andere wieder an. Gerd machte die paar Schritte und vergaß seine Frage. Setzte sich zu ihm.

Sein Lächeln entwaffnete Gerd. Erfüllte ihn mit unendlich viel Lust und unendlich viel Schmerz. Denn noch galt es, die Mauer zu durchbrechen. Stück für Stück wagten sich die Worte hervor. Dann war die Quelle aufgetan und ergoß sich in sprudelnden unkontrollierten Sätzen, die dem sonst an logisches Denken gewöhnten Philosophen chaotisch davonsprangen und wie bunte Bälle durch den Raum hüpften und schließlich verschwanden. Dann hallten sie wider und sollten ihm doch nur dieses Lächeln, dieses wunderbare Lächeln seines Gegenüber erhalten. Schon versuchte seine Hand, die des anderen zu streifen. Schon verwirrte dessen Name - Uwe - seine Sinne, indem er einen wilden Tanz in seinem Gehirn aufführte. Schon war ihm dieser Uwe vertraut und er, der seine Schicksalsgöttin völlig vergessen hatte, bat ihn, mit hinaufzukommen, in sein Zimmer. Selbstverständlich. Der drückte die Zigarette aus und folgte tatsächlich, immer noch lächelnd.

Gerd wußte, daß er von einem breiten sicheren Weg abwich. Er ahnte, daß er sich auf bisher unbekanntes, für ihn verbotenes Gebiet begab. Aber es war nur für dies eine Mal. Einmal sich verwandeln, in die Haut eines anderen schlüpfen und dabei man selbst werden - einmal, nur einmal sollte dies geschehen. Im Märchen hat man drei Wünsche frei und er war bereit um des einen willen auf die beiden weiteren zu verzichten.

2.

Als sie allein waren, schien Uwe hilflos und unsicher. Warum war er nur so verwirrt? War auch ihm am Ende schwindlig. Schwindlig vor Angst? Schwindlig vor Glück? Gleich würde er die Grenze überschreiten, würde er das Schicksal herausfordern, würde er mit Freiheit spielen. Da aber vom Schicksal befreite Freiheit ein Traum war, spielte er also nur mit einem Traum. Manche Menschen glauben freilich daran, daß Träume Tatsache seien auf einer weiteren Ebene der Realität. Aber morgen schon wollte er sich dem Wahren fügen, dem gewaltigen Schicksalsrad. Vor dessen Wagen ließ er sich wieder spannen. Er mußte ihn weiterziehen.

Als Uwe in seinen Armen lag, war ihm die Welt da draußen fast egal. Er wähnte sich auf einer Schaukel, die ihn unendlich hoch erhob über alles Gemeine, Niedrige, über die Feigheit, den modrigen Schicksalskarren. Aber den vergaß er nicht für einen Moment.

Nie hatte er derartig stark und anhaltend empfunden, und er war sich sicher, nie wieder so zu empfinden. So nahm er in jedem dieser unsäglich glücklichen Augenblicke für immer Abschied von jenem Augenblick.

3.

Als sich der andere endlich aus seiner Umarmung löste, lagen sie eine Weile still nebeneinander. Gerd, der Abschied genommen hatte, überlegte, daß er morgen den zweiten Teil seines Vortrages halten würde und dann wäre alles wie vorher.

Da sagte Uwe:

„Ich habe es mir immer gewünscht, aber ich habe nicht daran geglaubt, daß es wahr werden könnte, daß auch du mich mögen könntest."

„Wieso? Sind ein paar Stunden für dich immer?"

„Ein paar Stunden? - Seit einem halben Jahr höre ich deine Vorlesungen an der Universität. Ja, ich habe mich irgendwie in dich verliebt. Dabei wußte ich nicht mal, ob du auch empfindest wie ich. Als ich hörte, daß hier eine Konferenz stattfindet, bin ich hergefahren. Meine Bekannten haben gestaunt, daß ich mich derartig in der Philosophie engagiere. Es ist einfach verrückt. Ich hätte nie geglaubt, daß sich mein geheimster Wunsch erfüllt."

Gerd lag ganz starr. Er vergaß für Sekunden das Atmen. Leise flüsterte er, stieß die Worte hervor, mühsam, wohl wissend, daß er hier Klarheit haben mußte.

„Soll das heißen, du bist einer meiner Studenten?"

„Hst du mich denn nicht erkannt? In den Vorlesungen sahst du oft in meine Richtung. War alles nur eine Einbildung von mir? Ein Traum? Du hast mich mitgenommen und geglaubt, ich sei ein Fremder?"

„Ja."

Mehr brachte Gerd nicht heraus. Er drehte sich zur Seite.

„Du wolltest ein Abenteuer für diese eine Nacht?"

„Ja."

„Gut."

4.

Als Gerd am Morgen erwachte, kitzelte ihn die Sonne im Gesicht. Die dunklen Vorhänge ließen die Strahlen einfach hindurch. Sie wirkten eben nur dunkel, diese Vorhänge, in Wirklichkeit waren sie unzulässig durchlässig.

Er sah zur Seite. Er war allein.

Sein Kopf schmerzte. Gedanken verwirrten ihn.

Erpressung. Schande. Schwierigkeiten. Glück. Liebe. Verlangen. Angst.

Auf dem Tisch fand er einen Zettel.

„Verehrter Herr Professor! Ich werde Sie nicht mehr behelligen. Ich reise ab. Ich bin nur Ihr Student. So soll es bleiben, wenn Sie es wollen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Uwe."

Er stand auf und wußte, daß nichts mehr wie früher war. Am Schicksalskarren war das Rad gebrochen. Er mußte verweilen. War ihm damit auch die Freiheit entschwunden?

„Ich stehe am Scheideweg und soll wählen. Aber ich weiß nicht, welcher Weg die Freiheit bringt, indem er sich wieder dem Schicksal vermählt. Vielleicht beide? Vielleicht keiner!"

Er könnte warten und den Weg wählen, auf dem als erster ein Wanderer zu sehen ist.

Gerd öffnete die Tür und lauschte nach draußen. Beide wohnten im Gang links neben ihm. Beide mußten auf dem Weg nach unten an ihm vorbei. Er sah hinaus und wußte nicht, ob er sich wünschen sollte, daß zuerst die Göttin oder sein Geliebter den Weg passieren möge.

Aber der Entscheidung des Zufalls würde er sich beugen.



  

Traumsplitter

Endlich ICH. Transsexuelle ErlebnisweltenTraumsplitter



Traumsplitter

In: Endlich ICH. Transsexuelle Erlebniswelten
Selbstverlag 2000, ISBN 3-00-007084-2, S. 105 - 110



Der See blinkte mit seinem unheimlich wirkenden Blau durch die Bäume. Hier, wo sie beide saßen, merkte man fast nichts von dem Badebetrieb, der sich weiter unten abspielte. Sebastian hatte sich zurückgelehnt und betrachtete seinen Freund, der den Oberkörper bereits entblößt hatte, nun aber innehielt und eine Gestalt beobachtete, die am blauen Rand des Sees entlang ging.

"Ist das ein Mädchen oder ein Junge?" fragte Sebastian und wandte Marc das Gesicht zu.

Sebastian hatte wunderschöne große Augen, die seinem von der Sonne bereits gebräunten Gesicht den Hauch von etwas nicht Hiesigem gaben. Man meinte, es sei da der Schimmer einer anderen Welt, einer nicht irdischen Wirklichkeit. Marc sagte ihm einmal, daß ihm seine Augen unheimlich seien. Unheimlich wie dieses Stück See, das hier durch die Bäume schimmerte und einen gänzlich unerreichbaren Eindruck machte, währenddessen ein paar Schritte weiter der schrille, bunte Badestrand sich in nichts von dem anderer Seen unterschied.

"Ich weiß nicht. Es sieht aus wie ein Mädchen. Dem Schritt nach ist es aber wohl ein Junge. Aber, was kümmert uns das? Warum ziehst du dich nicht weiter aus? Willst du wieder angezogen in der Sonne braten. Das vorige Mal hast du gesagt, du wärst erkältet, und ein anderes Mal hättest du angeblich schon einen Sonnenbrand. Ich kenne dich nur von oben bis unten zugeknöpft", fügte er nach einer Weile etwas vorwurfsvoll hinzu.

Damit berührte er wieder jenen wunden Punkt, der Sebastian, jedesmal, wenn das Gespräch darauf kam, zusammenzucken und einsilbig werden ließ. Zuerst fand Marc Sebastians Zurückhaltung gut. Sie war es, die ihm derartig imponiert hatte, daß er Sebastian nicht mehr aus den Augen ließ. Beinahe täglich rief er bei ihm an, bat ihn darum, mit ihm auszugehen, kaufte Kinokarten und einmal sogar Logenplätze für Tschajkowskis "Schwanensee".

Aber allmählich gab er Sebastian zu verstehen, daß dieses ständige Abwehren jeder Zärtlichkeit und dessen strikte Ablehnung, auch nur ein Stück seines Körpers preiszugeben, auf immer weniger Verständnis seinerseits stieß.

Aber er bewies dennoch Geduld und hatte sich auch allerhand einfallen lassen, Sebastian nun schon zum drittenmal zum Badengehen einzuladen.

Gestern abend sagte er ihm dann, daß er einen großen Wunsch hätte - endlich Sebastians Körper kennenlernen zu dürfen, einmal nur dessen nackte Haut zu streicheln. Er versprach, nicht mehr zu verlangen, als dieser beim ersten Mal zu geben bereit wäre. Vielleicht diesmal beim gemeinsamen Badengehen. Er habe einen See ausfindig gemacht, den er selbst bisher noch nicht gekannt habe. Da gäbe es ruhige Plätze. Rundrum Wald und Sträucher. Nach langem Zögern ließ sich der Freund überreden. Nun aber saß er weiter im Jogging-Anzug neben Marc und machte keine Anstalten, sich wenigstens des Oberteils zu entledigen.

"Sieh mal, Marc, da hinten. Sieht aus, als ob ein Gewitter aufzieht. Ich werde noch warten. Ist doch schon wieder ziemlich kalt geworden."

Marc, der älter als Sebastian war, wirkte traurig.

Er war nicht eigentlich alt, aber für einen ihresgleichen war er wohl doch schon zu alt. Die dunklen abendlichen Parks gaben ihm keinen Platz mehr und auch jene anderen verschwiegenen Orte verschlossen ihre Türen.

Sebastian war froh, daß es so war. Ihn störte der Altersunterschied nicht. Er glaubte, daß hier noch ein wenig Hoffnung war auf etwas, was er von einem Partner erwartete. Ein Traum, den er ein Leben lang geträumt hatte, könnte nun in Erfüllung gehen. Er könnte die Bäume beleben, das Gras, auf dem sie lagen, erwärmen, den einsamen Schwan, den es auf dem See noch nicht gab, herbeizaubern.

Er versuchte, den Reißverschluß des Jogginganzugs zu öffnen, aber die Finger versagten ihm den Dienst.

"Du zitterst ja richtig", lächelte Marc nun, durch Sebastians Hilflosigkeit mit dessen Zurückhaltung versöhnt.

"Soll ich dir helfen?"

"Nein, es geht."

"Du hast ja noch ein Hemd drunter. Ich faß es nicht. Vielleicht bist du wirklich krank."

"Ich wollte dir vorhin im Auto etwas erzählen. Erinnerst du dich?"

"Ja, ja. Du wolltest mir erzählen, warum und wie dich dein, wie du behauptest, erster Freund verlassen hat. Stimmt's?"

"Ja, das ist richtig."

"Nun mach nicht so ein Gesicht. Ich kann warten. Ich will deine Geschichte hören. Wirklich!"

Das klang tröstlich und versöhnte Sebastian wieder mit Marcs manchmal hervortretender ironischer Art. Der See erschien ihm in diesem Moment noch dunkler zu werden, obwohl von Gewitterwolken in Wirklichkeit nicht einmal die Rede sein konnte.

"Der See hat was märchenhaftes an sich, findest du nicht", wandte sich Marc an seinen Freund noch ehe der die Gedanken für die eigene Geschichte ordnen konnte.

"Dann war das vorhin weder Junge noch Mädchen, sondern ein zwergenhafter Waldgeist, der die Sinne verwirrt und allen eine Frage stellt, die niemand beantworten kann."

"Du sprichst wieder mal in Rätseln. Ich hoffe aber, deine Geschichte ist nicht rätselhaft. Ich bin heute zu müde zum Knobeln."

"Nein, es wird eine sehr einfache und klare Geschichte."

"Das glaub ich nicht. An dir ist nichts klar."

Marc zog Sebastian an sich und versuchte, durch die Kleider hindurch dessen Körper zu erspüren. Wieder entdeckte er jenes unheimliche Leuchten in den Augen des Freundes. Der wies auf den See.

"Sieh dir das an, da schwimmt ein Schwan! Ein Schwan. Tatsächlich! Das bringt Glück."

"Aber ein schwarzer, mein Lieber. Schwarze Schwäne sind etwas völlig anderes als weiße Schwäne. Wenn du schon ein geheimnisvoller Waldgeistkenner bist, müßtest du das schon wissen."

"Es ist egal. Ich werde jetzt besser erzählen."

Dies Stück zur Erde gekommenen Traum wollte er sich durch weiters Analysieren nicht zerstören lassen.

"Er hieß Frank und ich lernte ihn in einer Disco kennen. Ich denke, wir waren uns auf den ersten Blick sympathisch. Ich war das erste Mal in einer solchen Disco. Deshalb war ich unheimlich aufgeregt, als er mich ansprach."

"Deine erste Disco? Wie alt warst du denn da? Sechzehn?"

"Nein, achtundzwanzig."

"Du lieber Himmel, da brauche ich mich ja wirklich nicht mehr zu wundern."

"Wir tanzten den ganzen Abend zusammen, obwohl es leider zu wenig Tänze gibt, bei denen man wirklich zusammen tanzen kann. Aber im Prinzip war es ganz gut so. Denn manchmal drückte er mich derartig an sich, daß es unheimlich weh tat."

"Weh tat?"

"Ja, weh tat. Die Operation lag noch nicht lange zurück. Der ganze Brustkorb schmerzte."

"Du bist operiert worden?"

"Ja, aber das kommt später."

"Also bist du wirklich krank gewesen, vielleicht jetzt noch krank. Entschuldige, wenn ich taktlos war."

"Du warst nicht taktlos. Du konntest nichts wissen. Und du weißt ja auch jetzt noch nichts."

"Warte mal, ich fang uns den Salamander da!"

Marc sprang auf und jagte dem rötlichen Tier hinterher, bis dieses ganz plötzlich unter einer Wurzel verschwunden war. Atemlos kehrte er zurück.

"Ich hätte ihn dir geschenkt. Vielmehr unters Hemd geschoben. Dann hätte ich mir von ihm erzählen lassen, was es dort zu sehen gibt."

Marc lachte gutmütig auf und entledigte sich nun auch noch seiner langen Hose, die er mit Rücksicht auf Sebastian bis jetzt anbehalten hatte.

Sebastian bestaunte Marcs muskulösen Körper, dessen Haut, die noch überall straff war und kaum überschüssigen Fettansatz aufwies. Ergebnis harter Trainingsstunden.

"Gib mir deine Hand und erzähl weiter", forderte Marc ihn nun auf.

Sebastian legte seine noch schmale Hand in Marcs kräftige Hände und fuhr fort:

"Wir sahen uns jeden Abend. Es war beinahe wie jetzt mit dir."

"Du willst mich eifersüchtig machen?"

"Nein. Wir trafen uns nur in Kneipen. Er versuchte ständig, mich zu sich einzuladen. Aber ich wollte nicht mitgehen."

"Genau wie mit mir ..."

"Ja."

"Du erzählst nicht etwa unsere Geschichte? Bis auf die Disco stimmt alles."

"Nein, ich hoffe nicht, daß es auch unsere Geschichte wird."

"Na, da bin ich ja beruhigt." Marc rekelte sich. "Schön in der Sonne. Du ahnst nicht, was du verpaßt."

"Er stellte mich sogar seinen Eltern vor. Die schienen auch ganz angetan von mir zu sein. Die Mutter hatte russischen Zupfkuchen gebacken und der Vater versuchte, mir einen Wodka nach dem anderen einzuhelfen."

"Das können nicht meine Eltern gewesen sein."

Marc lachte.

"Nein. Schließlich überredete er mich mit ihm nach Holland zu fahren. Er mochte Blumen. Besonders Tulpen. Ich wollte nicht, aber er schaffte es schließlich, mich zu überzeugen. Dazu gehörte auch nicht mehr viel. Ich hatte mich inzwischen in ihn verliebt."

"Daraus muß ich für mich ja recht traurige Schlüsse ziehen", versuchte Marc nun ein zu betrübtes Gesicht zu machen, was ihm natürlich nicht gelang.

"Wir fuhren los. Es war ein regnerischer Sonnabend. Auf der Autobahn kamen wir überhaupt nicht voran. Mehrere Staus hintereinander. Frank fluchte. Dann schlug er vor, zu einem Rasthof zu fahren. Er war müde. Es war bereits später Nachmittag. Vielleicht etwas essen. Warten, ob der Stau sich auflöst oder in die nächste Stadt fahren."

Marc begann inzwischen, Sebastians Hemd aufzuknöpfen. Er strich über die leicht behaarte Brust, fuhr an den Narben entlang, ohne zu fragen, woher sie denn stammten. Sebastian schloß die Augen. Wenn er sich doch fallenlassen könnte. Nur für einen Augenblick. Aber er mußte erst seine Erzählung beenden.

"Frank stellte das Auto ab. Wir erhielten im Motel ein Zimmer."

Marcs Finger glitten inzwischen tiefer. Sebastian ließ es geschehen, daß sie auch die restliche Kleidung abstreiften.

"Du hast einen sehr schönen Körper" sagte Marc. "Wie du dich immer geziert hast, hätte man ja sonst was annehmen können."

Er wollte Sebastian berühren, doch der hielt seine Hand fest. Mit mehr Kraft als ihm zuzutrauen war.

"Hör bitte erst zu."

"Ist ja schon gut."

"Wir stellten die Sachen im Zimmer ab und alberten rum. Er warf mich aufs Bett und begann, mich auszuziehen, ähnlich wie du jetzt eben."

Da hab ich ihm gesagt, daß mein Körper, so wie er damals war, noch nicht sehr alt ist. Ich habe ihm versucht zu erklären, daß ich 27 Jahre in einem Körper gelebt habe, der meiner Seele nicht entsprach, einem Körper mit weicher Haut und Brüsten. Es fiel mir nicht leicht, darüber zu sprechen. In mir krampfte sich bei der Erinnerung an diesen Zustand alles zusammen. Ich mußte es ihm sagen, denn er hätte ja doch gemerkt, daß etwas nicht stimmt. - Da zog er seine Hand zurück. Und er sah mich sehr lange sehr traurig an.

Dann stand er auf, zog sich an und ließ mich allein im Motel zurück.

Marc war aufgesprungen. Ein Schatten verdeckte Sebastian das Entsetzen, daß sich in dessen Gesicht spiegelte. Er ging ein paar Schritte zurück und blieb stehen.

Der See war inzwischen tief dunkelblau verfärbt. Es sah aus, als würde der schwarze Schwan mit der Farbe des Wassers verschmelzen.

Marc beugte sich zu Sebastian nieder und sah ihn sehr lange sehr traurig an.



  

29.09.2011

Stationen

Endlich ICH. Transsexuelle ErlebnisweltenStationen



Stationen

In: Endlich ICH. Transsexuelle Erlebniswelten
Selbstverlag 2000, ISBN 3-00-007084-2, S. 105 - 110



1.)

"Ich kann mich nicht an meinen ersten Schrei erinnern, der durch die Begegnung mit der mir fremden Welt ausgelöst wurde. Ich weiß jedoch auf das bestimmteste, daß ich von Anbeginn mich als Kömmling empfand, der in eine ihm fremde Welt geriet."

Immer wieder lese ich die Zeilen Nikolaj Berdjaews, meines Lieblingsphilosophen. Zu genau spricht er gerade das aus, was ich empfinde, seit ich mich bewußt als Person wahrnehme. Oft kann ich mich von dieser Lektüre die ganze Nacht hindurch nicht losreißen.

"Das Lebensempfinden, von dem ich spreche, möchte ich als Lebensfremdheit, als eine Ablehnung der Gegebenheiten der Welt, als Nicht-Verschmolzensein, Nicht-Verwurzeltsein in der Erde, als krankhafte Abkehr vom Alltäglichen definieren." Richtig. Ich finde es beruhigend, daß ich jemand kenne und sei es nur auf dem Papier, der das empfand, was ich empfinde.

"Was mir aber stets sehr quälend und schlimm erschien, war mein furchtbares Angewidertsein vom Leben. Vor allem bin ich ein Mensch, den es ekelt, und dieser Ekel ist körperlicher und geistiger Natur. Ich habe mich bemüht, das zu überwinden, aber vergebens. Dabei spüre ich fast gar keine Verachtung; ich verachte niemanden und ich verachte nichts. Aber dieser Ekel ist grauenhaft. Er hat mich mein ganzes Leben lang gepeinigt, so beispielsweise im Hinblick auf das Essen. Das Angewidertsein wird von der physiologischen Seite des Lebens hervorgerufen. Ich habe mein Leben - infolge dieses Angewidertseins mit halbgeschlossenen Augen und Nase gelebt."

Ich schließe das Buch. Zu sehr berühren mich die Zeilen und wühlen mein Inneres auf.

Ja, ja - Weltekel, Weltschmerz, Welthaß. Selbsthaß.

Ich mich, weil ich meinen Körper hasse. Er wäre das Tor zu dieser mir verschlossenen Welt. Das Tor ist verriegelt. Es ist nicht mein Körper!

Doch Berdjaew fand für sich die Lösung im Denken, im Philosophieren, im Kopf. Er hat doch recht! Nur der Kopf zählt, der Geist. Der Körper ist Ballast und behindert das wahre Leben und irgendwann wird man ihn sowieso abwerfen. Dann wird man frei sein.

Alle Religionen bestätigen es. Der Körper ist sündig, der Körper ist wertlos, ist Hülle, die zerfällt, ist gar Strafe.

Wie gut also, daß ich ihn hasse, diesen Körper. Sollen die anderen sich doch auf Abwege begeben, mit ihrem Körperkult und Schönheitskult. Wahrscheinlich habe ich auf diese Weise sogar die besten Voraussetzungen, dem zu widerstehen.

Ich will das Buch wieder aufschlagen. Gut in Büchern bestätigt zu finden, was man sich selbst gerade erdacht hat.

Stechender Schmerz. Eine Migräne kündigt sich an. Ich gehe in die Küche und greife zur Schachtel mit den Kopfschmerztabletten. Seit einiger Zeit wundere ich mich, warum mein Kopf immer öfter streikt, wenn ich mich losreißen will von der Alltäglichkeit und durch die Bücher Ausflüge unternehme, in das mir einzig als wirklich erscheinende Leben. Muß ich vielleicht zugeben, daß ich mich irre?! Stimmt doch etwas nicht an meiner Weltphilosophie? Immer hartnäckiger wird der Gedanke. Seit einigen Wochen schon läßt er sich nicht mehr verdrängen. Immer wieder versuche ich, diese Gefühle zu bekämpfen, aber sie scheinen mir etwas sagen zu wollen, worauf ich keine Lust habe, es zu hören. Schon lange soll mir der Kopf die Nachricht übermitteln und nun streikt er.

Natürlich weiß ich es längst. Ich stelle mich vor den Spiegel, um mir einmal ins Gesicht zu sagen, was ich über mich weiß und um zu sehen, wie mein Spiegelbild auf diese Eröffnung reagiert. Ich postiere mich vor der glatten, kalten Fläche. Ich sehe den Spiegel an, er sieht mich an. Ich weiß, wir mögen uns nicht. Er zeigt mir ein schrecklich verzerrtes, ein falsches Gesicht. Einen dünnen Hals. Zarte blasse Haut, die auch davon nicht derber wird, daß ich sie jeden Sommer stundenlang in die Sonne halte. Dünne Arme, schmale Schultern, eben einen Frauenkörper. Manchmal wird mir eiskalt, wenn ich das sehe, manchmal packt mich die Wut. Diesmal siegt die Wut.

Ich muß es endlich einmal aussprechen. Ich hasse die Welt, da ich meinen Körper hasse. Ich hasse diesen weiblichen Körper. Es ist nicht mein Körper. Es ist der falsche Körper. Ich möchte der Welt entfliehen, weil ich diesem Körper entfliehen möchte. Denn: Ich bin ein Mann!

Ich schreie es dem Spiegelbild ins Gesicht. Er verzieht sich zur Grimasse, aber hinter der Grimasse kommt ein Lächeln zum Vorschein. Ein sich für Sekunden befreiendes Lächeln.

Aber wer soll das begreifen? Keiner wird es verstehen!

Nur diese Weltflüchtlinge, Asketen, von denen die Bücherwelt berichtet, die mögen ähnliches gefühlt haben, wenn vielleicht auch aus anderen Gründen.

Aber die kann ich nicht mehr fragen.


2.)

Ich bin bei Freunden eingeladen. Inzwischen kenne ich das Wort "Transsexualität". Ich habe mir Bücher darüber besorgt. Ich versuche, das erste Mal zu benennen, was mich plagt, als es zu einer Diskussion über Unterschiede zwischen Frauen und Männern kommt.

"Es gibt aber auch weibliche Seelen in männlichen Körpern und männliche Seelen in weiblichen Körpern."

Ich sage es so, wie ich es für mich verstanden habe. Ich bin ein Mann in einem mir völlig fremden Körper.

Pause. Einige starren mich an.

"Es gibt überhaupt keine Seelen", lacht Klaus und ich bin froh, daß er die Gelegenheit nicht nutzt, um eine Erziehungsstunde im Fach Atheismus abzuhalten. Polemik zwischen Religion und Atheismus ist sein Spezialgebiet, und gewöhnlich schafft er es mit durchdringender Stimme und zwingenden Gebärden, die gesamte Runde verstummen zu lassen. Da ihn aber diesmal Barbara mehr interessiert als jede Diskussion, wendet er sich ihr wieder zu und gibt mir die Chance, weiterzumachen.

"Man muß es ja nicht Seele nennen. Man kann auch Bewußtsein sagen. Empfinden. Fühlen ..."

"Wenn schon, dann gibt es nur neutrale Seelen. Erst ist die Seele neutral, dann kommt sie in den Körper und wird rein formal dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Aber im Prinzip gibt es gar kein Geschlecht. Das haben sich die Ideologen des Patriarchats nur ausgedacht, um ihre Herrschaft über die Frauen aufrechtzuerhalten."

Das war Cornelia, die Feministin und sie ist bereit, mich für jeden weiteren Satz in der Luft zu zerreißen.

Aber wer soll solch komplizierte Prozesse hier auch klären, darüber gibt es kaum abgesicherte Forschungsergebnisse, nur Thesen. Aber man muß eben alles in Begriffen fassen. Sonst kann man sich nicht mitteilen. Ich hole tief Luft und versuche es doch noch einmal:

"Also, egal, was ihr jetzt denkt. Ich fühle mich jedenfalls als Mann in einem weiblichen Körper. Ich bin transsexuell."

Jetzt starren mich alle an. Keiner lacht. Es ist eigentlich auch keiner entsetzt.

Ich weiß, daß ich es jetzt erklären müßte, genau erklären, was ich fühle. Aber die Worte fehlen. Gefühle zu beschreiben ist meine Sprache nun zu schwach. Das können vielleicht Poeten in ihren langen Gedichten. Ich bin kein Poet.

Ich beschließe, es erst richtig für mich zu klären.

Ich beginne den Dialog mit mir selbst.


3.)

Inzwischen lerne ich Transsexuelle kennen und sehe, daß es einen Weg gibt. Einen Weg des Körpers.

Doch ich versuche immer noch, mit Worten und Gedanken das Problem zu klären. Immer noch wollen mich Worte besiegen. Warum haben Worte diese Macht über mich? Noch immer versucht sich der Kopf in seiner Führungsposition zu behaupten.

Ich selbst glaube auch noch fest an seinen Sieg. Schließlich gibt es Philosophen, Asketen ... Jahrhundertealte Erfahrung kann nicht täuschen. Wichtig ist ein starker Wille, ein starker Geist. Der Weg ist laut Berdjaew: Vergeistigung des Lebens der Materie bis zu ihrer Zerstörung. Das muß einfach richtig sein.

Ich spreche mit Studenten über mein Problem. Sie haben aufmerksam zugehört, und ich kann an ihren Augen ablesen, daß sie verstanden haben. Sie haben viel gefragt, und ich scheine Worte gefunden zu haben, die überzeugend waren.

Doch ich spüre: es waren nicht nur die Worte, die gewirkt haben. Es war mehr. Was war dieses mehr?

Nach dem Unterricht will ich wieder beginnen, über mich nachzudenken, als mich ein Student anspricht. Er redet leise, traut sich nicht recht.

Ich ermuntere ihn, Platz zu nehmen.

Er setzt sich. Dann sagt er:

"Ich kann sie sehr gut verstehen. Ich kann mir vorstellen, daß es wie eine Behinderung ist."

Olaf ist behindert. Er redet weiter:

"Ich stelle es mir so vor. Der Kopf will, daß der Körper auf bestimmte Weise reagiert. Für den Kopf ist es ganz klar und logisch, daß der Körper so reagieren können müßte. Aber der Körper schafft es nicht. Das Bewußtsein hat eine genaue Vorstellung davon, wie der zu ihm gehörende gesunde Körper aussehen müßte. Das hat nichts mit übertriebenen Idealen zu tun. Es ist da einfach eine Disharmonie."

Er erzählt davon, wie schwer ihm das Studium fällt, da er sich nur schlecht konzentrieren kann. Er kann sich seine Behinderung nicht wegdenken. Es belastet ihn, immer wieder die gut gemeinten Ratschläge der anderen zu hören:

"Denk nicht dran!"

"Reiß dich zusammen!"

"Wenn man will, kann man alles!"

Er wäre froh, durch eine Operation die Behinderung zu überwinden. Aber sie ist irreparabel. Er meint, Operationsnarben verheilen eines Tages, dann können auch die Narben in der Seele, im Kopf heilen. Er kann diese letzteren Narben nie loswerden, aber er wünscht mir Glück auf meinem Weg.

Tatsächlich. Er hat Recht. Immer wieder bin ich verunsichert, wenn der Körper andere Reaktionen zeigt, als sie nach meiner Vorstellung für meine innere Befindlichkeit adäquat wären. Nach zweistündigem Unterricht, während dem mir beinahe unablässig meine hohe Stimme im Ohr vibriert, bin ich oft nervlich völlig fertig. Etwas in mir weiß, daß dies gar nicht meine richtige Stimme ist. Trotz aller Mühe kann ich sie nicht tiefer klingen lassen. Manchmal lenkt mich die Anstrengung, die mit diesem aussichtslosem Kampf verbunden ist, sogar vom Vortrag ab.

Streiche ich mir über Gesicht, Arme oder Beine, schreckt mich deren Glätte. Wo sind die borstigen Härchen, die doch zu mir gehören und die nicht wachsen wollen?

Laufe ich, will sich trotz ausladender Schritte und betont festen Auftretens die rechte Schwere der Körperbewegung nicht einstellen. Männer laufen anders, weil sie einen anderen Körperbau haben. Ständig spüre ich, daß ich irgendwie nicht so laufe, wie es für mich richtig wäre. Meine übertriebenen Versuche führen dann zu Lächerlichkeiten. Das erzeugt wieder Wut. Ich kann mich nicht mal beim erholsam wirken sollenden Spaziergang auf meine Umwelt konzentrieren. Die Disharmonie zwischen der Vorstellung von meinem Körper und seiner realen Existenz führt zur absoluten Nach-innen-kehr aller meiner Sinneswahrnehmungen.

Ich starre auf den Bücherstapel im Regal. Etwas in mir zerbricht. Ein Glaube.

Auf einem Buchrücken steht. Nikolaj Berdjaew "Reich des Geistes oder Reich des Cäsar". Warum nicht "Reich des Geistes und Reich des Cäsar"?

Philosophie. Vielleicht manchmal auch Flucht vor sich selbst. Auch der Körper hat sein Dasein. Er lebt und hat Rechte. Dialektik statt Hierarchie. Herrschaft ist vielleicht generell die falsche Lösung. Materie und Geist miteinander.

Ich nehme mir den Berdjaew aus dem Regal. Ich spüre, daß ich wieder flüchten will. Ich werfe das Buch zu Boden. Die Sekretärin steckt erschrocken den Kopf durch die Tür. Ich hebe das Buch auf, dessen Rücken einen Riß bekommen hat.

"Nun ist der Berdjaew gerissen", sage sich entschuldigend und stelle das Buch auf seinen Platz zurück.

Ich muß eine Entscheidung treffen.


4.)

Seit einem Jahr nehme ich Hormone. Testosteron. Laut Beipackzettel führen sie zur "Ausbildung der männlichen Geschlechtsmerkmale". Das klingt medizinisch kühl. Für mich bedeutet es Leben. Das erste Mal in meinem mittlerweile 32jährigem Existieren.

Nun fällt es mir schwer, in Worte zu fassen, was sich seitdem alles verändert hat. Vieles ist so tiefgreifend, daß ich mich manchmal frage, ob wirklich nur ich mich verändert habe oder nicht sogar die gesamte Welt.

Ich sinke Stück für Stück in mich hinein. Eine Scheibe zerbricht und ich komme in der Welt an.

Den Strauch da habe ich früher immer übersehen. Zu erstenmal sehe ich die unscheinbaren Knospen unter den Blättern. Ich wundere mich, daß es überhaupt Blätter mit solch sonderbaren Formen gibt. Doch die anderen bestätigen es: "Ja, der sah immer schon so aus." Nur ich habe es nicht gesehen.

Das Glas, hinter dem ich früher gelebt habe, muß sehr dick gewesen sein. Nie hätte ich vermutet, daß es draußen eine derartig bunte, farbenfrohe Welt gibt.

Plötzlich finde ich Dinge interessant, über die ich früher gelacht habe.

Einmal bleibe ich vor einem Video-Shop stehen und sehe mir die Kassetten an. Es macht mir Spaß, auch die zu betrachten, die eindeutig für das werben, was ich früher derartig öffentlich ausgestellt, einfach abartig gefunden hätte. Ich zwinge mich nicht zum Vorübergehen, sondern beschließe den Kauf.

Das Leben wird rund. Ich habe aufgehört, es einzuteilen in eine "hohe" und eine "niedere" Seite.

Ich finde plötzlich Gefallen daran, mir neue Kleidung zu kaufen. Wie bewundernswert asketisch fand ich früher das ständig wiederkehrende eintönige Grau meiner Pullover. Wie verwandelt fühle ich mich in der Motorradjacke aus schwarzem Leder. Leder hat Ausstrahlung. Ich kann es spüren. Umsonst habe ich mir früher rational zu erklären versucht, was wohl den Reiz dieser Bekleidung ausmacht.

Ich bekomme einen Körper, der beginnt, die Welt in mich einzulassen.

Breite Schultern, Muskeln, Behaarung in Gesicht, an Brust und den Beinen, eine tiefe Stimme - mit jedem Tag kann ich mehr zu mir sagen: "Das bin ich. Ich bin ein Mann. Ich heiße Björn."

Hab ich je anders gehießen?

Ich werde auch äußerlich zu dem, was ich innerlich immer schon war. Um mich herum stellt sich alles auf seinen rechten Platz. Immer weniger habe ich das Gefühl, in einer verkehrten mir völlig fremden Welt zu sein. Das Wort "zu Hause" bekommt für mich einen völlig neuen Klang. Ich bin nun in mir selbst behaust.

Manchmal habe ich das Gefühl, als sei das doch immer schon so gewesen. Als habe es kein "davor" gegeben. Keine Qual. Keinen Haß. Keinen Ekel.

Sicher, ich bin nicht schön. Doch das Spiegelbild zeigt mir lächelnd einen sympathischen Mann. Dieser Mann hat glückliche Augen.

Nur die morgendlichen und abendlichen Waschungen erinnern mich daran, daß etwas mit mir anders ist als bei anderen Männern. Mich fröstelt dann trotz des warmen Wassers. Schnell ziehe ich mich wieder an.

Der Weg ist noch nicht zu Ende. Aber ich weiß, ich werde meinen Weg gehen. Den für mich richtigen Weg. An dieser Stelle fehlen mir die Worte. Und das ist gut so.