17.11.2011

Homosexualität

Homosexualität



Homosexualität  (Teilbeitrag Russland und Sowjetunion)

In: Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens. Klagenfurt 2004 (externer Link Onlineartikel)


1 Forschungsstand

H. wird in Russland erst seit der Perestroika wieder öffentlich thematisiert und wissenschaftlich erforscht. Damit vollzieht sich in Russland eine im Unterschied zu Westeuropa und den USA verspätete Rezeption und Wirkung im gesamtgesellschaftlichen Kontext. In den westlichen Ländern werden seit einigen Jahren die thematisch-methodologischen Voraussetzungen zur Erforschung des Phänomens innerhalb seines kulturgeschichtlichen Kontextes geschaffen. Federführend ist dabei die sich inzwischen aus der Genderforschung herauslösende ›Queer Theory‹. Entscheidend für die Erkundung des Phänomens H. in Russland ist das Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Die oder der Homosexuelle verließen im allgemeinen die Peripherie (das Dorf) und zogen ins Zentrum (liberale Großstädte, wie Moskau und Petersburg), ausschließlich hier bildeten sich homosexuelle Kreise heraus. Im kulturellen Bewusstsein Russlands halten sich auch bis heute stereotype Vorstellungen vom großstädtischen Zentrum als Ort der Unmoral einerseits, vom Dorf als Ort der Natürlichkeit und moralischen Normentsprechung andererseits. Die Sowjetrepubliken blieben im wesentlichen Orte der Peripherie. Nach der Perestroika wurde die homosexuelle Emanzipation hier stark überlagert von der nationalen Emanzipation. Eine Aufarbeitung des homosexuellen Untergrunds zu Sowjetzeiten ist kaum vollzogen. Eine weitere Besonderheit der Diskussion über H. in Russland ist, dass diese v. a. in der Literatur geführt wird und daneben sich allenfalls noch in juristischen Texten wiederspiegelt. Die soziologische Forschung zur H. steht weitgehend noch in den Anfängen, entziehen sich hier doch die „Untersuchungsobjekte“ aufgrund jahrelanger Verfolgung häufig dem wissenschaftlichen Zugriff.

2 Rechtslage

Im Mittelalter gaben in Russland biblische Vorgaben, v. a. der Bericht von Sodom und Gomorrha (Gen. 19) die Rechtsgrundlage für die Bewertung der H. Männliche H. galt als verwerflicher als weibliche. Als besonders abartig galt die Einnahme der passiven Position durch den Mann. Als Sühne wurde v. a. Fasten und Geißelung empfohlen. Direkte strafrechtliche Sanktionen waren bis zur Regierungszeit Ivan IV. Groznyjs (1547-84) nicht vorgesehen.

Nach dem noch bis zu Beginn des 20. Jh. gültigen zaristischen Strafgesetzbuch (§ 995) war homosexueller Verkehr zwischen Männern mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu ahnden. Das nachrevolutionäre Sowjetrussland verhielt sich zur H. zunächst relativ liberal. Zwischen 1917 und 1933 gab es keinerlei Strafverfolgung für freiwilligen homosexuellen Verkehr zwischen Männern. Die Sowjetunion nahm damit zu dieser Zeit sogar eine Vorreiterrolle gegenüber Westeuropa ein. Russische Wissenschaftler plädierten auf internationalen Kongressen für eine Liberalisierung des Strafrechts. Sie forderten die homosexuelle als Teil der Befreiung von jeder Form der Unterdrückung. Ab den 30er Jahren aber wurden wieder traditionelle Familienbeziehungen und Geschlechterrollen propagiert. Paragraph 121 regelte die erneute Strafverfolgung männlicher H. Lesbischsein galt dagegen in einer Gesellschaft, die die Verweigerung von Mutterschaft nicht tolerierte, v. a. als geistige Störung.

Mit Beginn der 90er Jahre des 20. Jh. wurde die Gesetzgebung nach und nach gelockert. Gleichgeschlechtlicher Verkehr unter erwachsenen Männern steht seit 1993 nicht mehr unter Strafe.

3 Organisationsformen

Homosexuelle Gruppenbildungen sind in Russland ab dem 19. Jh. bekannt. So bestand etwa in St. Petersburg ein homosexueller Kreis um den holländischen Botschafter Jacob T. van Heeckeren. Auch offizielle Vertreter des Geistes- und politischen Lebens Russlands verkehrten in homosexuellen Zirkeln, wie der Bildungsminister Sergej S. Uvarov und der Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften Prinz Michail Dondukov-Korsakov einerseits, der Maler Aleksandr A. Ivanov, der Komponist Tschaikowsky (Pëtr I. Čajkovskij), der Schriftsteller Vladimir P. Meščerskij und Dichter Aleksej N. Apuchtin andererseits.

Die Wirkung dieser Zirkel war, beschränkt auf einen engen Kreis, relativ gering. Dies änderte sich zu Beginn des 20. Jh., als in Russland in kurzer Zeit zahlreiche literarische Salons, Gruppen und Zirkel entstanden, die mit kulturphilosophischen Konzepten, in denen sie sich u. a. mit H. auseinandersetzten, auftraten (vgl. IV). Besonders bekannt geworden sind hier die sog. Hafiz-Abende im „Turm“ des Symbolisten Vjačeslav I. Ivanov, an denen u. a. der Schriftsteller Michail A. Kuzmin, der Maler Konstantin A. Somov, der Übersetzer Johannes von Guenther und der Dichter Sergej M. Gorodeckij teilnahmen.

Ab den 30er Jahren waren homosexuelle Gruppenbildungen nur in der Subkultur möglich, deren Verzweigungen noch kaum erforscht sind. Nach der Perestroika kam es zur Bildung einer kaum überschaubaren Zahl von Organisationen.

Die homosexuelle Emanzipation in Russland unterscheidet sich deutlich von der in der westlichen Welt. So sind in der russischen Frauen- und lesbischen Emanzipationsbewegung spezielle feministische Fragestellungen nicht präsent. Lesbische Frauen in Russland bezeichnen sich selbst vorwiegend als transsexuell, gleichzeitig haben Untersuchungen gezeigt, daß diese Frauen kaum einen Geschlechtswechsel anstreben bzw. sich als Mann fühlen. Diese Disparitäten der Definitionen beruhen auch auf den in Russland sehr stark verbreiteten Vorstellungen vom effeminierten Schwulen und der maskulinen Lesbe. Die homosexuelle Emanzipationsbewegung in Russland kennzeichnet weiterhin ein großer Gegensatz zwischen konformistischen und nonkonformistischen homosexuellen Organisationen.

4 Philosophische Theorien

Das Fin de siècle v. a. eröffnete die philosophische Diskussion um Geschlechterfragen in der gebildeten Öffentlichkeit. Vorstellungen eines zu gleichen Teilen männlichen und weiblichen Wesens Mensch charakterisieren den russischen Symbolismus und hier v. a. die Theorien Vladimir S. Solovʹëvs und Dmitrij S. Merežkovskijs. Um Toleranz kreist Vasilij V. Rozanovs „Menschen des Mondlichts“ (russ. Ljudi lunnogo sveta, 1911), der hier die H. gleichzeitig mit dem Attribut der Göttlichkeit versieht.

Zur Überwindung der Geschlechtergrenzen wurden auch neue Familienformen diskutiert. So experimentierten etwa die Eheleute Vjačeslav Ivanov und Lidija D. Zinovʹeva-Annibal mit einer Lebensgemeinschaft zu Dritt.

5 Literatur

Am prononciertesten wurde und wird H. in Russland in der Literatur thematisiert. Die Literaturwissenschaft, beispielsweise hat sich der Erforschung der H. zuerst angenommen. So spekulierte der Slawist Simon Karlinsky über eine H. Nikolaj V. Gogolʹs und deren mögliche Auswirkung auf sein Werk. Der Schriftstellerin Nadežda A. Durova, die, so die Überlieferung, in Männerkleidern in die napoleonischen Kriege zog, schreibt man eine lesbische Identität zu.

Russlands erster Homosexuellenroman stammt von M. Kuzmin. In „Flügel“ (russ. Krylʹja, 1905) wollte er H. als „einen Aspekt der nationalen Kultur Russlands und der sexuellen Spezifik der 'Russen' gestalten“ (Sergl 1998, 106). Zinovʹeva-Annibals „Dreiunddreißig Ungeheuer“ (russ. Tridcatʹ tri uroda) von 1906 gilt als Manifest lesbischer Liebe. Weibliche H. wurde ebenso von Ljudmila Vilʹkina (Minskaja) und den Dichterinnen Sofija J. Parnok und Marina I. Cvetaeva (Lettre à l'Amazone, 1932/34) thematisiert.

Dichterische Bearbeitungen homosexueller Beziehungen sind v. a. aus dem Bereich der „Lagersexualität“ bekannt und wurden meist anonym verfasst. Als bekanntester homosexueller Autor der Nachkriegszeit gilt Evgenij V. Charitonov. Neuere Texte stammen von Dmitrij A. Prigov, Ljudmila Voroncova, Olʹga Krauze, Aleksander Šatalov, Konstantin Plechanov, Timur Novikov, Nikolaj Koljada und Ėduard V. Limonov.

Essig L. 1999: Queer in Russia: A Study of Sex, Self, and the Other. Durham. Karlinsky S. 1976: The Sexual Labyrinth of Nikolai Gogol. Cambridge. Levin E. 1989: Sex and Society in the World of the Orthodox Slaves, 900–1700. Ithaca. Seidel-Dreffke B. 1998: Homosexualität bei Wasili W. Rosanow. Ein tabuisiertes Kapitel russischer Kulturgeschichte. Forum Homosexualität und Literatur 32, 21–32. Sergl A. 1998: Homosexualität und ästhetische Wertbildung bei M. A. Kuzmin. Zeitschrift für Slavische Philologie 57/1, 105–132.

(Björn Seidel-Dreffke)




  

15.11.2011

Jugend als unerreichbares Begehren

Jugend als unerreichbares Begehren



Jugend als unerreichbares Begehren. Überlegungen zu den Texten Ewgeni W. Charitonows.

In: Popp, Wolfgang, Linck, Dirck (Hrsg.): Forum Homosexualität und Literatur 42 (2003), Siegen 2003, S. 53 - 67.


Jugend als unerreichbares Begehren. Überlegungen zu den Texten Evgenij V. Charitonovs.

In: Johannsmeyer, Karl-Dieter, Lehmann-Carli, Gabriela, Preuß, Hilmar (Hrsg.): Empathie im Umgang mit Tabu(bruch). Kommunikative und narrative Strategien (= Lebedewa, Jekatherina; Lehmann-Carli, Gabriela (Hrsg.): Ost-West-Express. Kultur und Übersetzung. Band 19) Frank & Timme, Berlin 2014, S. 321 - 335.


Ewgeni W. Charitonow (1941-1981) gehört zu den facettenreichsten Figuren des sowjetischen „Undergrounds“. Bekannt war er als Theaterregisseur und als Schriftsteller. Dabei war sein Leben als Regisseur ein offizielles, von den Mächtigen geduldetes, das zweite aber für ihn weitaus Wichtigere, als Autor, mußte im Verborgenen bleiben. An dieser Stelle seien zuerst einige Hinweise zu Charitonows „offiziellem“ Leben gegeben.
Charitonow beendete im Jahre 1964 die Moskauer Filmhochschule (WGIK). Aufgrund herausragender Leistungen hatte er die Möglichkeit, an der Hochschule zu verbleiben, wo er in den Jahren 1967-1969 den Kurs für „Schauspielkunst und Pantomime“ leitete.
Im Jahre 1972 promovierte er mit einer Dissertation zum Thema: „Die Bedeutung der Pantomime für die Ausbildung des Filmschauspielers“. Der Durchbruch als Regisseur gelang ihm schließlich mit einem selbst geschriebenen Stück für taubstumme Schauspieler „Otscharovanny ostrow“ („Die verzauberte Insel“), das zwischen 1972 und 1980 in Moskau ständig auf dem Spielplan stand und einen großen Publikumserfolg hatte.
Charitonow unterrichtete auch an der Moskauer Universität, am Lehrstuhl für Psychologie, wo er sich mit der Korrektur sprachlicher Defekte auseinandersetzte. In einem Moskauer Kulturhaus leitete er eine Klasse für nichttraditionelle Schauspielkunst. Daraus ging die populäre Gruppe „Posledni schans“ („Die letzte Chance“) hervor, die eine besondere Art des Musiktheaters inszenierte.
Aber nach Charitonows eigenen Aussagen war für ihn seine Tätigkeit als Schriftsteller weitaus wichtiger. Dabei gehörte er allerdings zu denjenigen Autoren, die in offiziellen sowjetischen Journalen fast keine Möglichkeit hatten, ihre Texte zu veröffentlichen. [1]

Ein Hauptgrund für den Umgang mit dem schreibenden Charitonow liegt zweifellos in der Besonderheit seiner Texte, die tabulos die homosexuelle Liebe thematisieren.
Es sah über Jahre so aus, als habe sich Charitonow mit seinem schriftstellerischen „Nischendasein“ abgefunden. Kurz vor seinem Tode aber, im Jahre 1980, hatte sich eine Gruppe junger Literaten gebildet (neben Charitonow gehörten ihr an: F. Berman, N. Klimontowitsch, E. Koslowski, W. Kormer, E. Popow, D. Prigow), die beschlossen hatten, das literarische Almanach „Katalog“ herauszugeben. Es sollte der jungen experimentellen Prosa endlich den Weg zum Leser eröffnen. Da aber Thematik und Schreibweise der sowjetischen Ideologie entgegenstanden, und man wahrscheinlich vorhatte, das Almanach auch im westlichen Ausland zu publizieren, endete der Versuch tragisch. [2]
Einige Mitglieder der Gruppe wurden verhaftet. [3] Es fanden Hausdurchsuchungen statt. Auch Charitonow wurde vom KGB verhört, wobei er mehrmals in Ohnmacht fiel. Dies zerrüttete wahrscheinlich seine Gesundheit und war sicher auch ein Grund für seinen frühen Tod.

Nach der Perestrojka wurden Charitonows Texte auch in der russischen offiziellen Presse veröffentlicht. [4] Seine tabulose Thematisierung der homosexuellen Liebe aber verhinderte es, daß er ähnlich wie andere „nichtoffizielle“ Literaten sofort zur verdienten Popularität gelangte. Auch erst in den letzten Jahren wird sein Schaffen Gegenstand literaturkritischer Bestandsaufnahme. [5]

Meine Analysen beziehen sich auf die 1993 erstmals publizierte Textsammlung E. Charitonows „Slesy na zwetach“ [6], die 1996 in einer deutschen Übersetzung von Gabriele Leupold unter dem Titel „Unter Hausarrest. Ein Kopfkissenbuch“ [7] erschien. Sie vereint eine Reihe von Erzählungen [8], die zwischen 1968 und 1980 entstanden [9] und einen „Roman“, obwohl auch hier diese Bezeichnung eher als Zeichen, denn als reale Genrebestimmung zu sehen ist.
Charitonow hat diese Sammlung seiner Texte kurz vor seinem Tode selbst zusammengestellt.
Ich betrachte das so entstandene Buch als ein geschlossenes Opus, das aus einem Zyklus von Erzählungen besteht, deren Anordnung vom Autor bewußt in dieser Reihenfolge vorgenommen wurde. Die einzelnen Texte sind stilistisch und thematisch miteinander verbunden, so daß man den Eindruck gewinnt, es handele sich um einen zusammenhängenden Text über das Leben eines alternden Schwulen im Rußland der „Stagnationsperiode“ (zu Zeiten des „Kalten Krieges“), der in Anlehnung an die Form der Darstellung des „Bewußtseinsstroms“ gestaltet wurde.
Dabei ist Charitonows Textpräsentation äußerst eigenwillig. Manchmal sind Worte und Sätze in einzelne Absätze zerhackt, bedecken auch schon mal als Schlangenlinie das Papier, es finden sich bewußt hervorgehobene Korrekturen und Tippfehler. Charitonow selbst schrieb über seine Textgestaltung:
‘Kein Setzer wird alle Entstellungen, Unterstreichungen, Lücken, Tippfehler genau nachmachen, er wird nur seine eigenen hinzufügen, ...’ [10]
Sehr treffend beschreibt G. Witte diese eindrucksvolle Textgestaltung Charitonows:
Auf der einen Seite pflegt er avantgardistische oder neoavantgardistische Schreibverfahren (Gattungszwitter zwischen Dokumentation und Fiktion, Essay und Erzählung; extreme Sujet- und Perspektivbrüche; stilistische Vulgarismen; in der Poesie metrische Collagen und freie Verse, stellenweise auch typographische und visuell-poetische Verfahren in der Nachbarschaft von konkreter Literatur und Konzeptualismus). [11]
Charitonows Textsammlung vereint verschiedene Themen - Schwierigkeiten des sowjetischen Lebens: Bürokratie, Hausdurchsuchungen, Bedrohung durch die Staatsmacht. Hauptschwerpunkt aber bildet die Darstellung homosexueller Erlebnisse und Sehnsüchte des erzählenden Ich: das Verlangen eines älteren (zwischen 30 und 40 Jahre alten) [12] Schwulen nach einem viel jüngeren Partner, der zwischen 15 und 18 Jahre alt ist. [13] Dabei aber wird eine unüberwindliche Kluft zwischen erzählendem Ich und dem Objekt der Begierde aufgetan, die nicht zu überwinden ist. Immer wieder betont der Ich-Erzähler, daß er zu alt sei, seine Verlassenheit und Einsamkeit:
Man kann mich nicht lieben. Man kann keine alten Knochen begehren. [14]
Jugend wird mit Schönheit und Vitalität gleichgesetzt, Alter mit Häßlichkeit und Unbeweglichkeit.
Das erzählende Ich entwickelt in den einzelnen Texten unterschiedliche Strategien, um die Kluft zwischen sich und dem jeweiligen Objekt seiner Begierde, dem jugendlichen schönen Jungen, zu überwinden.
Eine Möglichkeit bietet hier der voyeristische Blick des „beobachteten Erzählers“ [15], so in der Erzählung „Ein lebenstüchtiger Kleiner“. Es wird beschrieben, wie ein Arzt die Untersuchung an einem Rekruten vornimmt, bis in die Einzelheiten hinein naturalistisch und deutlich:
Und nackt taugen sie alle, häßliche Gesichter nicht gerechnet, es zählt nur das Relief. Steißbeine, paarige Wölbungen. Sie knöpfen sich auf und gegenseitig, welcher ist größer. Aber keiner mit keinem irgendetwas, auch wenn sie spielen, einander berühren. N., treten Sie hierher. Drehen Sie sich um. Er dreht sich, denkt das muß so sein. Bücken Sie sich. Er bückt sich. Was sein muß muß sein, er hat Vertrauen zu Amtspersonen. Ziehen Sie das Präputium zurück. Was? Na hier das. Und mache es selbst. Natürlich ruhig, sonst schöpfen die Kollegen Verdacht. [16]
Doch der Blick, das bloße Schauen kann die Barriere zum begehrten Objekt nicht wirklich überwinden.
Das erzählende Ich versucht es mit Anweisungen, versucht Regelkataloge für sich und die imaginären Rezipienten aufzustellen, wie man es bewerkstelligen könnte, sich die Jugend gefügig zu machen:
Gebote für den Umgang mit jungen Leuten:
Soll er Ihnen nach dem ersten Mal ruhig drei Tage aus dem Weg gehen. Dann, wenn er sich betrinkt, stürzt er wieder zu Ihnen (nur von selbst) und sagt ich hatte Sehnsucht nach dir; dann soll er ruhig wieder verschwinden, und beim dritten Mal kommt er und sagt endlich ich liebe dich ich kann ohne dich nicht leben. Und jetzt gehört er Ihnen; warten Sie auf das dritte Mal. [17]
Die Sehnsucht nach einem Jungen kulminiert manchmal sogar in gebetsartige Beschwörungen:
Gott! Mach daß ein Junge wie ich ihn mir träume sich mir zuneigt und mir ergeben ist wie ein Hund. [18]
Doch auch so läßt sich die Kluft zwischen Jugend und Alter nicht überwinden. Die Sehnsucht bleibt ungestillt.

In späteren (im Textband weiter hinten angeordneten Erzählungen) bedient sich das erzählende Ich noch weiterer Strategien, um aus seinem Dilemma herauszufinden.
In „Die Geschichte eines Jungen ‘Wie ich so geworden bin’“ schildert der Ich-Erzähler aus der Perspektive eines 14-16jährigen Jungen sein Coming-out, beschreibt, wie ihn ein um viele Jahre älterer, aber berühmter Maler förderte, und er diesem dafür gefügig war. Die Erzählperspektive wechselt am Ende der Erzählung, und der Ich-Erzähler schlüpft in die Rolle eines weiteren Jungen, der mit dem ersten Erzähler bekannt war und über diesen auch besagten Maler kennenlernt. Die zweifach jugendliche Perspektive aber verschärft nur den Konflikt zwischen Jung und Alt. Die beiden jungen Erzähler bleiben unter sich, finden schließlich zueinander, der Maler bleibt ausgeschlossen.
Die Bemühungen des Ich-Erzählers um eine Identifikation mit der Jugend gehen schließlich soweit, daß mehr und mehr eigene Jugenderinnerungen in den Text eingeflochten werden. Das erzählende Ich schreibt in einer beinahe infantil wirkenden Kindersprache imaginäre Briefe an „papotschka“ und „mamotschka“, erinnert sich daran, wie ihn die Großmutter badete, betrachtet seine eigenen Jugendfotos und erprobt eine neue Strategie zur Überwindung des existentiellen Unterschieds zwischen Jung und Alt. Er sucht Jugend nun in der Umkehr der eigenen Lebensperspektive, sucht Jugend in der Erinnerung an sich selbst als jungen Mann:
Und wenn ich meine Jugendphotos anschaue und einen durchaus nicht häßlichen Jungen sehe und weiß daß dieser Junge niemals wirklichen Erfolg in der Liebe hatte, tut er mir mehr leid als irgendjemand sonst.
Ich legte ihm vorsichtig eine Hand auf, fürchtete er schüttelt sie ab.
Und er schüttelte sie ab.
Aber ein Junge wie ich sie liebe.
Ein weißlicher, genauer, gräulicher. [19]
Die Projektion von Jugend ins eigene erinnernde Ich scheint für einen kurzen Moment eine vage Erfüllung zu bringen:
Ich hörte wie die Tür aufging und ich eintrat. Ich ging auf mich zu, wir umarmten uns mit trockenen vorsichtigen Körpern, angstvoll, zu hitzig zu sein und uns aufeinander zu stürzen, so vertraute Leute, die voneinander alles wissen, ein wirkliches Liebespaar. Wir hatten eine gemeinsame Kindheit. [20]
Der Nachsatz aber demonstriert die Unerfüllbarkeit auch dieser Beziehung:
Nur können wir keine Kinder haben. [21]
Die angestrebte Schließung des Lebenskreislaufs, die Rückkehr zur Kindheit ist eine Sackgasse, sie ist nicht reproduzierbar.
Schließlich aber kommt das erzählende Ich zu einer entscheidenden Einsicht. Bisher wurde Jugend ausschließlich idealisiert, mit Stärke und Schönheit gleichgesetzt. Nun aber gelangt der Ich-Erzähler zur Erkenntnis der Priorität des Inneren über das Äußere: nicht die äußeren Attribute der Jugend zählen mehr, sondern tatsächlich relevant erscheint ihm nun seelische, geistige Jugend:
Wenn sie auch jung sind mit rosigen Wangen, man sieht, sie haben die Seele von Klötzen, und ich, obwohl ich unter ihnen gelebt habe und verknöchert bin, die Seele eines zarten Knaben, furchtsam, zitternd, nur unsichtbar im Schutz der finsteren Augen in ihren Höhlen, sie aber - sie wirken jung und zerbrechlich und leicht, aber innen die reinsten Klötze. [22]
In zahlreichen klassischen Texten hätte eine solch einschneidende Erkenntnis zweifellos eine entscheidende Wandlung des erzählenden Ichs mit sich gebracht, hätte wahrscheinlich zu Weisheit, Abgeklärtheit und Über-den-Dingen-Stehen geführt, wäre dazu angetan gewesen, nun neue Perspektiven, eine neue Dimension des Seins zu erschließen.

Nicht so bei Charitonow.

Wir finden in den folgenden Texten zwar nun nur noch äußerst selten die Thematisierung des sehnsuchtsvollen Begehrens nach einem jugendlichen Partner. Aber das erzählende Ich zieht sich nun völlig auf sich selbst zurück, Alter und Tod rücken in den Mittelpunkt des Betrachters.
In der Erzählung „Im kühlen, höheren Sinne“ äußert sich der Ich-Erzähler folgendermaßen.:
Im Alter,
im Alter werde ich unartikuliert sprechen, Fett ansetzen, die Beine werden halb krumm sein, schwer zu beugen, die Stimme eine Greisenstimme, die Gewohnheiten Greisengewohnheiten, ein schrecklicher Geiz wird sich entwickeln, und überhaupt besser nicht daran denken ...
Ach, wie schrecklich ich bin. Wo soll ich noch hinfahren.
Nur um dort den gleichen Schrecken vorzufinden.
Wo ist mein Sarg! Gebt mir meinen Sarg! [23]
Der Titel der Erzählung „Im kühlen, höheren Sinne“ suggeriert eigentlich die Möglichkeit des Erreichens einer anderen Dimension, nach Erlangen der sehr persönlichen Erkenntnis über das Verhältnis von Jugend und Alter. Doch für das erzählende Ich bedeutet diese Erkenntnis einen Verlust an Vitalität, der Lebenstonus sinkt. Die Einsicht, daß sein lebenslanges Streben auf eine Illusion gerichtet war, führt nicht zu einer freudvollen, abgeklärten Vision eines Neuanfangs, sondern zu Todessehnsucht, Trauer und Ekel.
Die Texte Charitonows bewegen sich im Spannungsfeld von Jugend (eigentlich deren äußerem Ende: Kindheit) und Alter (auch dessen äußerem Ende: Tod). Eine Mitte existiert im gesamten Text eigentlich nicht: kein mittleres Alter (auch mit 28 ist man unter dem Blickwinkel des Erzählers schon alt, erst recht mit 40), keine emotionale Mitte. Die Spannung scheint unüberbrückbar.

Einen Weg aber weisen die Texte Charitonows, wie diese Spannung zu überbrücken sei - nämlich in der Sprache. Was dem erzählenden Ich im wirklichen Leben nicht gelingt, läßt sich zum Teil wenigstens in der Sprache realisieren: die Annäherung eines älteren Mannes an einen deutlich jüngeren.

Ein Text, der die Hauptsehnsucht des Ich-Erzählers besonders prononciert zum Ausdruck bringt, ist „Duchowka“ („Die Röhre“). Was in späteren Texten oft nur schemenhaft und verschwommen artikuliert wird, was man teilweise aus Wortfetzen nur schwach erahnen kann, wird in dieser, beinahe klassisch anmutenden Erzählung mit aller Deutlichkeit ausgesprochen.
Diese Art der Ausarbeitung einer bestimmten Thematik mit dieser Konzentration und Geschlossenheit finden wir bei Charitonow später nicht mehr vor.

Der Ich-Erzähler ist von Moskau aufs Dorf in seine Datscha gefahren. Dort sieht er auf der Straße zufällig den 16jährigen Mischa, der ihn sofort beeindruckt, und er beschließt, sich mit diesem bekannt zu machen, ihn für sich zum Freund zu gewinnen, was sich als nicht einfach erweist.
Das Problematische wird dabei nicht so sehr als ein Konflikt zwischen einem Schwulen und einem Jungen, der eventuell heterosexuell sein könnte, beschrieben, sondern wird als ein Konflikt dargestellt, der sich im Altersunterschied manifestiert. Dabei betont der Ich-Erzähler von Anfang an die für ihn kaum überbrückbar erscheinende Kluft zwischen Jugend und Alter. Mischa ist 16 Jahr alt und der Ich-Erzähler 12 Jahre älter. [24]
Dabei erscheinen uns als Rezipienten 28 Jahre noch kein „Alter“ zu sein. Sie sind es aber aus der Perspektive des Erzählers, der Jugend als ein von ihm derartig weit entferntes und kaum erreichbares Ideal sieht, daß ihm das eigene Alter dagegen beinahe „biblisch“ erschient.
Mischa wird nur als „schön“ charakterisiert. Es erfolgt weder eine Beschreibung von Haarfarbe, Augen, Statur, wie überhaupt auf jegliche genauere Fixierung seiner Körperlichkeit verzichtet wird. Jugend wird mit Schönheit gleichgesetzt, ist Schönheit schlechthin und bedarf keiner näheren Konkretisierung. Alter aber bedeutet auch hier automatisch Häßlichsein. So erscheint es auf den ersten Blick, als ob die Beziehung beider von Anfang an zum scheitern verurteilt wäre.
Aber der Ich-Erzähler findet ein Medium, in welchem die Annäherung möglich wird - die Sprache. Es wird ein sprachlicher Raum geschaffen, in welchem die maximale Begegnung zwischen Jung und Alt möglich zu sein scheint.
Bereits den Beginn der Bekanntschaft beider Protagonisten markiert das Wort. Der Ich-Erzähler bittet Mischa um Streichhölzer. Mischa reicht sie ihm vorerst schweigend. Zunächst besteht eine Dissonanz zwischen sprechendem Erzähler und dem schweigendem Jungen:
Ich habe nach Streichhölzern gefragt, er hat nicht geantwortet, kam auf mich zu, ich begriff noch nicht, was kommt er und antwortet nicht, oder sind das Straßenmanieren. [25]
Doch nachdem er von Mischa Streichhölzer erhielt, dieser seinerseits nach Zigaretten fragt, startet der Erzähler, der bereits resignieren wollte, einen verbalen Vorstoß. Er bittet Mischa, der eine Gitarre dabei hat, auf dieser zu spielen. Dieser kommt der Aufforderung prompt nach. Das gesungene Wort wird zu einer ersten Verbindung zwischen beiden Protagonisten. Allerdings wird auch hier vorerst wieder eine sprachliche Ungleichheit evident. Der Junge singt und der andere hört zu. Aber diese Dissonanz wird schließlich überwunden, als beide einem dritten Jungen, dem Ukrainer Tolja und dessen Gitarrenspiel lauschen:
... und Mischa und ich haben Tolja zugehört und gelacht, schon vereint in der Aufmerksamkeit für sein Singen; ... [26]
Der Erzähler will die Distanz zum Begehrten noch weiter verringern: er bittet diesen darum, ihm das Gitarrenspiel beizubringen. Dieser willigt ein und bringt sogar Textbücher mit Liedern mit. Das gesungene Wort schafft eine erste Brücke zwischen den Protagonisten.
Zu einem weiteren wichtigen Verbindungsglied zwischen beiden wird auch das geschriebene Wort. Mischa will Chemie studieren, zeigt dem Ich-Erzähler seine Bücher, versucht, ihn dafür zu interessieren. Der Erzähler läßt sich darauf ein.
Der Kontakt soll nun aber endlich auch über das direkt gesprochene Wort intensiviert werden. Dazu aber bedarf es zunächst noch eines Vermittlers. Da der Erzähler befürchtet, seine eigenen Geschichten könnten Mischa langweilen, zieht er einen ihn gerade besuchenden Freund bei einem Treffen hinzu, um über diesen Mischa für sich zu interessieren:
Für Mischa allein kriege ich keine Stimmung und kein anregendes Gespräch zustande, aber über Wanja hört auch Mischa zu, lacht und läßt sich reinziehen, erwärmt sich ein wenig für mich. [27]
Aber schließlich kommt auch zunehmend ein direkter sprachlicher Kontakt zwischen Erzähler und Mischa zustande. Die Dialogizität des Textes erhöht sich.
Symptomatisch dabei ist, daß Charitonow in den meisten Fällen auf eine klare, traditionelle Kennzeichnung des Dialogs mit einleitenden und abschließenden Zeichen verzichtet. Oft erfolgt eine Art Vermischung des Monologs des Erzählers mit seinem und dem Dialog des anderen:
Ein richtiges Familienkind, er hat auch, als er ablehnte, gesagt, ich habe kein Glas, aber macht nichts, wir können aus demselben, vielleicht hat er nicht mal gemerkt, daß das sonderbar ist. [28]
Allerdings erfolgt vorerst vor allem eine sprachliche Unterordnung des Erzählers unter den Jungen. Die Jugend spricht einen anderen Jargon, der ihm, dem Älteren nicht immer verständlich ist. Er muß versuchen, diesen zu erkennen oder zu schweigen:
Sie haben ihren Jargon: brauchbar ist gut, meine Frau ist ein Mädchen, mit dem sie geschlafen haben, ein Fell ein Jackett; ich darf nicht der Verlockung nachgeben, Mischa um die Schultern zu nehmen und mit dem sanften Lächeln des Älteren zu fragen, was meine Frau heißt oder durchziehen - sofort bin ich ein Mensch aus einer anderen Gesellschaft, ... [29]
Die Sprache des Jüngeren dominiert über weite Teile des Textes den sprachlichen Raum. Sprachdominanz bedeutet auch Macht. Der Ältere kopiert oft passiv die jugendlichen Ausdrücke.
Der Erzähler wird vor allem in der zweiten Hälfte des Textes immer redundanter. Er versucht nun auch selbst, in einem gewissen Rahmen aktiv zu werden. So will er dem Jungen Alkohol geben (obwohl er selbst nicht gern trinkt), um die Zungen zu lösen und die Kommunikation zu erleichtern. Die unklare Artikulation nach Alkoholgenuß würde wohl auch dazu beitragen, die sprachlichen Unterschiede zu verwischen. Der Erzähler erzählt Mischa auch seinerseits Geschichten (z. B.: von einem Mord, die er allerdings wieder von anderen Jugendlichen gehört hat. Die jugendliche Dominanz des sprachlichen Raumes bleibt vorerst.
Auf jeden Fall aber wird der sprachliche Raum zu einer Möglichkeit einer immer intensiveren Annäherung an den Jungen. Diese Annäherung verläßt allerdings den sprachlichen Rahmen nicht. Es gibt keinerlei Beschreibungen etwaiger körperlicher Annäherungsversuche, keine zärtlichen Berührungen, Gesten u. ä. Auch die Körperlichkeit Mischas bleibt weiterhin außerhalb des Rahmens sprachlicher Fixierung.
Der Höhepunkt des Aufeinanderzubewegens beider Protagonisten vollzieht sich schließlich in dem Moment, da nun Mischa seinerseits die Worte des Ich-Erzählers in sein eigenes sprachliches Repertoire übernimmt:
... als ich über den Jungen sagte, der gesungen hatte, daß er niemand gleicht, später redete Mischa in meinen Worten von ihm. [30]
Dieser Satz markiert den Höhepunkt des Textes und wird nicht zufällig etwa in der Mitte der Erzählung fixiert. Beide Partner sind damit gleichberechtigt. Der Erzähler muß sich nicht mehr einseitig um die Sprache des Jüngeren bemühen, dieser übernimmt freiwillig seine Worte, macht einen Schritt auf ihn zu. Ein sprachlicher Austausch ist entstanden, man könnte auch sagen: im sprachlichen Raum hat sich die vom Älteren gewünschte Vereinigung mit dem Jüngeren vollzogen.
Doch das Dilemma des Ich-Erzählers besteht darin, daß er nicht im sprachlichen Raum verbleiben, sondern dessen Grenzen überschreiten will. Er versucht, eine Annäherung an Mischa auch im realen Raum herzustellen und scheitert damit. Der reale Raum trennt, was der sprachliche Raum zu vereinen scheint. Dem Bemühen, die erreichte Annäherung im sprachlichen Raum auch in den realen Raum zu überführen, ist kein Erfolg beschieden.

Dazu einige Beispiele.

Beide Protagonisten begeben sich zum See, um zu baden. Wasser hat hier großen symbolischen Wert, als ein Element, das in der Lage ist, Dinge miteinander zu verbinden.
Mischa will zum wiederholten Mal zur Insel schwimmen. Der Erzähler schafft es nur einmal, ist danach ausgepumpt. Ein anderes Mal hat der Erzähler eigentlich keine rechte Lust, überhaupt ins Wasser zu gehen. Er ist nicht dazu in der Lage, den realen Raum Wasser mit Mischa zu teilen.

Eine ähnliche Situation zeigt sich auf den ebenfalls einen realen Raum markierenden Tanzabenden der Dorfjugend, an denen der Erzähler als einer der wenigen Älteren teilnimmt. [31]
Wenn er niemanden zum Reden hat, steht er meist abseits in der Pose des Zuschauers, fühlt sich deplaziert und einsam.

Einmal will er Mischa auf dessen Datscha besuchen. Dessen Großmutter verweigert ihm aber den Eintritt. Der Ich-Erzähler nimmt nun an, daß dies geschah, da er ein um so vieles älterer Bekannter von Mischa ist. Eine beinahe märchenhaft konnotierte Situation. Die Großmutter verteidigt eine Grenze - nämlich die zwischen sprachlichem und realem Raum.

Auch der Versuch des Erzählers, Mischa in den eigenen, heimatlichen Raum zu überführen, scheitert. Mischa will nur ganz kurz mit nach oben, denn der Treffpunkt der Jugend ist die Straße.

Die realen Räume werden von den Jugendlichen dominiert: diese können sich den Naturgewalten stellen (z. B. ausdauernd schwimmen), diese können miteinander fröhlich sein (auf den Tanzabenden).
Der reale Raum zerstört schließlich auch den gemeinsamen sprachlichen Raum zwischen Ich-Erzähler und Mischa. Das Wetter schlägt um. Mischas Familie reist ab. Die beiden Protagonisten werden räumlich getrennt.

Das Gespräch ließe sich nur noch über das Telefon aufrechterhalten, scheitert aber daran, daß die Mutter Mischas ihn einmal nicht mit diesem verbindet, was den Erzähler verschreckt. Zum anderen verpaßte er es, Mischa die eigene Telefonnummer zu geben, und bald findet er selbst keinen Vorwand mehr, der es rechtfertigen würde, den Jungen telefonisch anzusprechen.
Der reale Raum zerstört die sich im sprachlichen Raum anbahnende Beziehung, zerstört auch die Erinnerung, denn der Erzähler kann sich gar nicht mehr recht an Mischa erinnern, dessen Bild verschwimmt vor dem inneren Blick. Der Andere war für ihn nur im sprachlichen Raum nah und greifbar geworden. Der reale Raum hebt diesen auf und dominiert am Ende die Erzählung.

Schließlich begibt sich der Erzähler noch einmal zu Mischas Datscha. Diese ist nun völlig ausgeräumt, die Gardinen wurden von den Fenstern genommen. In einer der dunklen Fensterscheiben betrachtet er sein Spiegelbild. Er räsonniert:
Als Mischa und ich früher hier vorbeigingen, war da ein leeres Haus, ich schaute immer mein Spiegelbild an im Fenster, und wenn ich mit Mischa vorbeiging, blieb er auch stehen und schaute sich an, ich dachte, in einem so dunklen Spiegel sieht man die zwölf Jahre Unterschied nicht so. In einem so dunklen Spiegel sieht man die dreizehn Jahre Unterschied nicht so. [32]
Der Blick in den Spiegel reflektiert den Jetztzustand: 12 Jahre Unterschied und die Zukunftsperspektive: 13 Jahre Unterschied. Der Erzähler wird in seiner eigenen Vorstellung immer älter, der andere bleibt jung - dessen Alter verändert sich nicht.
Im Spiegel wird aber auch nochmals die Möglichkeit einer Vereinigung zwischen Erzähler und dem Objekt seines Begehrens evoziert. Der Spiegel fungiert auf diese Weise als imaginär-symbolischer Raum. Dieser imaginäre Raum schafft aber auch einen Gegensatz zum realen Raum, den er verzerrt darstellt.
Der Spiegel ist aber auch ein Vehikel der Selbsterkenntnis. Der Erzähler fixiert am Ende sprachlich den realen Altersunterschied, der ihn von Mischa trennt: 12 Jahre. Damit ist auch eine besondere Art von Einsicht verbunden, daß die Kluft zwischen ihm und dem Jungen, zwischen Jugend und Alter für ihn unüberwindlich ist. Aber wie bereits für den gesamten Textband festgestellt, führt die Erkenntnis auch hier nicht wirklich zu einer Betrachtung der Dinge aus einer „höheren“ Perspektive, sondern zu einer Todesvision:
Und jetzt, dachte ich, war dieses Häuschen ein Vorbote. Sie alle sind nur bis zum Herbst bewohnt, alle sterben der Reihe nach aus, und jetzt war Mischas Haus an der Reihe. [33]
Der imaginär-symbolische Raum hat keine Perspektive, ist nur ein dunkler Spiegel. Die Selbsterkenntnis zerstört die Illusion.

Zum Abschluß möchte ich noch kurz auf den Titel der Erzählung eingehen. Das russische „Duchowka“ wurde für den deutschen Text von G. Leupold mit „Röhre“ übersetzt, genauer wäre aber „Backröhre“. Der Titel verweist semantisch auf alle drei im Text gestalteten Räume.
Im Vordergrund steht der Bezug zum realen Raum. Die Vorstellung einer „Backröhre“ suggeriert Gemütlichkeit, Geborgensein, Heimat. Als der Erzähler sich an einem kalten Tag mit Mischa treffen will, überlegt er:
... zu Hause ist es nett, Piroggen brutzeln in der Röhre. [34]
Draußen sieht er Mischa, der in der Kälte sogar einen grauen Pullover trägt. Man spürt das Verlangen des Erzählers, Mischa in diesen heimeligen, heimatlichen realen Raum zu überführen, was für ihn leider nicht möglich ist. [35]
Die „Röhre“ steht aber auch für den sprachlich-geistigen Raum. Der russische Titel der Erzählung lautet ja „Duchowka“. „Duch“ bedeutet in der Übersetzung soviel wie „Geist“. Der Titel weist damit über den realen Raum hinaus in die geistige Sphäre, die sich in der Sprache artikuliert. Damit haben wir hier auch einen weiteren Hauptkonflikt des Erzählers im Titel komprimiert, den Widerspruch zwischen Leben und Denken, über den er auch in späteren Texten sinniert.
Die „Röhre“ verweist aber auch auf den imaginär-symbolischen Raum. In einer Backröhre können Dinge miteinander verschmolzen werden, die dabei ihr Aussehen verändern. Ähnlich dem dunklen Spiegel kann hier das Aussehen verschiedenartiger Materialien einander angeglichen werden. Verschmelzen bedeutet aber auch Zueinanderfinden, wobei die Hitze, die in der Röhre entwickelt wird, auch für das brennende Verlangen des Erzählers stehen kann.

Wie gezeigt werden konnte, ist die Sprache das einzige Medium, das eine Annäherung des Ich-Erzählers an das Objekt seines Begehrens möglich macht. In späteren Texten definiert sich der Ich-Erzähler häufig auch sehr deutlich vor allem über die Sprache:
Also. Glaube Rettung Buße Offenbarung; Sünde.
Keine SÜNDE. Man muß begreifen, hier schreibt
ein Mnsch, der im Wort lebt für den
der Wert des Lebens im Wort liegt - ...
Worin liegt die Bedeutung des Lebens eines (eben) solchen
Menschen? Die Bestimmung seines Lebens sieht er im
Kunstwerk (im sprachlichen). Und hier bestärkt ihn sogar
das Johannes-Ev. am Anfang war das Wort.
Und das Wort war Gott. Und so liegen sein Leben sein
Reichtum seine Erfolge auch im Wort, und in nichts
sonst. [36]
Mit dem „Wort“ hat denn wohl auch der Autor, der seinem Erzähler in so vielem ähnelt, einen Weg gefunden, sich mit den anderen der Welt zu vereinen, und damit vielleicht auch diejenigen zu erreichen, die Autor und Erzähler hatten ein Leben lang vergebens versucht, für sich zu gewinnen.

Dem Sarg Charitonows folgten schließlich mehrere hundert Trauergäste, darunter auch viele junge Leute.




Anmerkungen:
  1. Seine Arbeiten wurden vor allem im Samisdat („Selbstverlag“) und in russischen nichtoffiziellen Ausgaben publiziert: Vgl.: Duchowka. In: Tschasy, 20, 1979, Leningrad; Metschti i swuki (stichi). In: Tschasy, 29, 1981, Leningrad; Dzyn. In: Tschasy, 33, 1981, Leningrad; Slesy na zwetach. In: Tschasy, 58, 1986, Leningrad. - Teilweise wurden Texte Charitonows auch im Ausland publiziert. Vgl.: Schilez napisal zajawlenie; Pokupka spirografa. In: Neue Russische Literatur, 2-3, 1979-80, Salzburg; Schilez napisal zajawlenie, Odin takoj, drugoj, drugoj, Nepetschatnye pisateli. In: Katalog, 1982, Ann Arbor; Vilboa, Alescha Serescha, Schisnesposobny mladenez, Slesy na zwetach, Is pjesy. In: A-Ja, 1, 1985, Paris.
  2. Zu einigen Hintergründen, was Aktivitäten der Gruppe und das Verbot des Almanachs betrifft - vgl.: Nikolaj Klimontowitsch: Desjat let „Katalogu“: Itog. In: Ewgeni Charitonow: Slesy na zwetach. Kn. 2. Dopolnenia i priloschenia. Moskwa 1993, S. 116-121.
  3. Der „Katalog“ wurde schließlich 1982 im „Ardis-Verlag“ in den USA publiziert.
  4. Vgl.: Odin takoj, drugoj drugoj; V cholodnom vysschem smysle. In: Iskusstvo kino, 11, 1991, Moskwa; Duchowka. In: Westnik nowoj literatury, 3, 1991, St. Peterburg; Duchowka. In: Stoliza, 7, 1992, Moskwa; Predatelstwo-80. In: Literarturnaja gaseta , 11, 1992, Moskwa; Stichi. In: Gumantitarnyj fond , 50, 1992, Moskwa; Slesy ob ubitom i saduschennom. In: Nesavisimaja gaseta , 64, 1993, Moskwa.
  5. Vgl. u. a.: Dmitri Prigow: Kak mne predstawljaetsja Charitonow. In: Glagol, 2, 10, 1993; E. Popow: Kus ne po subam. In: Ebenda; Wenedikt Erofeew: Stranstwie stradajuschtschej duschi. In: Ebenda; A. Goldschtejn: Slesy na zwetach. In: Nowoe literaturnoe obosrenie, 3, 1993; M. Remisowa: Slesy ob ubitom i saduschennom. In: Nesawisimaja gaseta, 30. okt., 1993; O. Dark: Nowaja russkaja prosa i sapadnoe srednewekowje. In: Nowoe literaturnoe obosrenie, 8, 1994; Aleksdandr Shatalov: The last unprintable writer. In: Index of censorship, 1, 1995, London.
  6. Kn. 1.: Pod domaschnim arestom; kn. 2.: Dopolnenia i priloshenia. Moskva 1993 (Buch 1: Unter Hausarrest; Buch 2: Ergänzungen und Anlagen).
  7. Berlin „Berlin Verlag GmbH“.
  8. Ich definiere Charitonows Texte in diesem Falle als Erzählungen, obwohl mir die Vagheit der Genrebezeichnung durchaus bewußt ist. Sie sind in keines der existierenden Genres einfach einzuordnen, entsprechende Untersuchungen dazu stehen noch aus. M. E. aber entspricht ihnen die Bestimmung als „Erzählung“ doch noch am ehesten.
  9. Viele davon sind allerdings schwer zu definieren, da Charitonow zu Lebzeiten nur sehr wenig publiziert wurde. Siehe Anmerkung 1. Erscheinungsdaten seiner Werke decken sich nicht unbedingt mit deren Entstehungszeit. Er selbst verzichtet auf Datierungen am Textende, da dies seiner Schreibstrategie widersprechen würde.
  10. Zit. nach Gabriele Leupold: Ein Held der Schwäche. In: Ewgeni Charitonow: Unter Hausarrest. Ein Kopfkissenbuch. Berlin 1996, S. 376.
  11. Georg Witte: Der beobachtete Erzähler. Literarische Reflexe des Anormalen - am Beispiel Evgenij Charitonovs. In: Jochen-Ulrich Peters; German Ritz (Hrsg.): Enttabuisierung. Essays zur russischen und polnischen Gegenwartsliteratur. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a.: 1996, S. 145.
  12. Soweit die Entstehungszeit einzelner Erzählungen feststellbar ist, deckt sich das Alter des Erzählers mit dem des Autors. In frühen Texten (z. B.: „Die Röhre“) charakterisiert er sich als ein Mann um die 30, in den späteren Texten weist er sich selbst als 40jährigen aus.
  13. Es erfolgen entweder konkrete Altersangaben oder Hinweise wie: geht in die 9. Klasse, will beginnen zu studieren u. ä.
  14. Ewgeni Charitonow: Im kühlen, höheren Sinne. In: ders.: Unter Hausarrest. Ein Kopfkissenbuch. Berlin 1996, S. 322.
  15. Vgl. dazu den Aufsatz von Georg Witte - Anm. Nr. 11.
  16. Ewgeni Charitonow: Ein lebenstüchtiger Kleiner. In: ders.: Unter Hausarrest (wie Anm. 14), S. 56.
  17. Ewgeni Charitonow: Ein nichttrinkender Russe (wie Anm. 14), S. 266.
  18. Ebenda, S. 257.
  19. Ebenda, S.252-253.
  20. Ewgeni Charitonow: Tränen auf Blüten (wie Anm. 14), S. 295-296.
  21. Ebenda, S. 296.
  22. Ebenda, S. 303.
  23. Charitonow, E.: Im kühlen, höheren Sinne (wie Anm. 14), S. 322.
  24. Dies entspricht dem tatsächlichen Alter Charitonows beim Abfassen der Erzählung.
  25. Ewgeni Charitonow: Die Röhre (wie Anm. 14), S. 11.
  26. Ebenda, S. 13.
  27. Ebenda, S. 16.
  28. Ebenda, S. 27.
  29. Ebenda, S. 18.
  30. Ebenda, S. 25.
  31. Nur einmal bemerkt er einen, der um vieles älter als er zu sein scheint.
  32. Ewgeni Charitonow: Die Röhre (wie Anm. 14) 45-46.
  33. Ebena, S. 46.
  34. Ebenda, S. 23.
  35. In späteren Texten wiederholt der Ich-Erzähler mehrmals den Wusch, einen Freund zu haben, mit dem er die Wohnung teilen und einen gemeinsamen Hausstand gründen könnte.
  36. Ewgeni Charitonow: Tränen über einen Ermordeten und Erhängten (wie Anm. 14), S. 183.




 

09.11.2011

Homosexualität bei Wasili W. Rosanow

Homosexualität bei Wasili W. Rosanow



Homosexualität bei W. W. Rosanow. Ein tabuisiertes Kapitel russischer Kulturgeschichte.

In: Forum Homosexualität und Literatur 32 (1998), Siegen 1998, S. 21 - 32.


Philosophische Konstruktionen von Homosexualität bei Wasili W. Rosanow und ihre Tabuisierung Der Russe W. W. Rosanow (1856-1919)  ist als Autor schwer in einen eindeutigen Kanon zu pressen. Die Fachwelt stellt sich nach wie vor die Frage: Soll man ihn als Schriftsteller bezeichnen, als Publizisten oder als Philosophen?

Seine Produktivität übertraf die anderer Vertreter der Kulturszene im Rußland der Jahrhundertwende um ein Vielfaches. Zwischen 1886 und 1918 verfaßte er etwa 25 Bücher, hinzu kommt eine große Anzahl von Zeitschriftenaufsätzen. Seine Interessen erstrecken sich dabei auf fast alle Gebiete geistiger Tätigkeit wie Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst. Zu seinen bekanntesten Werken zählen: „Die Legende vom Großinquisitor F. M. Dostojewskis", 1890 („Legenda o welikom inkwisitore F. M. Dostojewskogo); „Metaphysik des Christentums", 2 Bde. 1911 („Metafisika christianstwa"); „Solitaria", 1912 („Ujedinennoje"); „Verwehte Blätter" 1913, 1915 („Opavschie listja"); „Die Apokalypse unserer Zeit", 1918 („Apokalipsis naschego wremeni").

Man einigte sich schließlich darauf, ihn als Philosophen, speziell Religionsphilosophen zu sehen, der in beständiger, zum Teil distanzierter, zum Teil konformer Auseinandersetzung mit der orthodoxen Kirche seine Thesen entwickelte.

Ein Kompromiß, der dem Gesamtwerk Rosanows nur in Ansätzen gerecht wird.

Noch mehr Probleme als seine Einordnung in einen Autorenkanon bereitete seinen Rezipienten (Lesern, Wissenschaftlern, Biographen) der Umstand, daß er es wagte, im Jahr 1911 folgendes zu schreiben:

„Aber daraus wird ersichtlich, wie wichtig diese 'männlichen Frauen' und 'weiblichen Männer' für die Zivilisation sind, welch große Rolle in der Welt diese 'niemals sich verheiratenden' spielen, welche Menge Arbeit von ihnen auf dem Altar der Menschheit geopfert wurde. Und was ist 'Homosexualität' in der rechtlichen und polizeilichen Beurteilung? In der religiösen Wertung? Und letztendlich in den Augen der 'leidenschaftslosen Wissenschaft?!' Ein Fall für […] die Irrenanstalt!!! Und nur deshalb, weil die Übergangsformen zur Homosexualität unbeachtet geblieben sind, ja und die Erscheinung selbst wurde nicht von der psychologischen Seite aus betrachtet, nicht mit Talent und Ehrlichkeit ausgewertet, sondern einzig und allein ausschließlich unter dem Blickwinkel des actus sodomicus (alte, in Rußland übliche Bezeichnung für Homosexualität - B. S.-D. ) betrachtet, der in neun von zehn Fällen überhaupt nicht stattfindet, und in 'geistigen Gemeinschaften', wenn diese auch schon von körperlicher Liebe, zuweilen von körperlicher Verliebtheit begleitet werden (es existieren Miraden von Abstufungen auf diesem Gebiet), fehlt doch dieser actus selbst in neun von zehn Fällen […] Die ganze Angelegenheit wurde verurteilt auf Grund des tatsächlich unschönen coitus per anum: der ja entweder gar nicht ausgeübt wird, aber selbst wenn er vollzogen wird, ist er doch nur ein Äderchen, irgendein 'Nerv', nicht der wichtigste und nicht der Entscheidende in der kaum überschaubaren Vielfältigkeit der Homosexualität. Er ist ein Ausdruck der ungewöhnlichen Nähe, der Liebe und schließlich der (mondischen) Verliebtheit von Personen mit Genitalien, die bei beiden Verliebten gleich sind; er spiegelt das Bedürfnis wider, 'einander mit Strahlen zu durchdringen', sich gegenseitig die Seelen mit 'himmlischen Fühlern' abzutasten."

Diese Zeilen finden sich nicht etwa in einem publizistischen Aufsatz, sondern im zweiten Teil von Rosanows „Metaphysik des Christentums" (1911), welcher unter dem Titel „Menschen des Mondlichts" („Ljudi lunnogo sweta") veröffentlicht wurde. In Rußland ist 1990 ein Reprint dieses Werkes erschienen.  Eine deutsche Übersetzung ist mir nicht bekannt. Rosanows ursprüngliches Anliegen bestand darin, eine historische, ethische und philosophische Begründung des Christentums zu geben. Doch führen ihn seine Fragestellungen bald an das Gebiet des Geschlechts heran, das er als Hauptstimuli jeglicher Entwicklung und Weltbewegung betrachtet.

Er stellt zuerst die These auf, daß die christliche Religion vor allem auf Abkehr vom körperlichen und Hinwendung zum geistigen Leben basiere. Er kritisiert dabei bestimmte übertriebene Formen mönchischer Askese mit ihrem völligen Verzicht auf Fleischeslust, der nach Rosanows Auffassung aus dem Widerwillen herrührt, sich mit dem Gegengeschlecht zu paaren. Diese Erscheinung bezeichnet er auch als „geistige Homosexualität".

Andererseits lobt er die dem christlichen Glauben dadurch immanente Spiritualität. Aber schließlich führt er auch das Prinzip der Askese selbst ad absurdum, da er auch der „geistigen Homosexualität" das Recht auf körperliche Erfüllung zugesteht. Fazit seiner Überlegungen ist schließlich die These, daß das Geschlechtliche an sich etwas Heiliges sei und nicht als zum Bereich des Natürlichen gehörend damit automatisch als dem Geistigen diametral entgegengesetzt bzw. untergeordnet eingestuft werden dürfe. Verschiedene Arten von Geschlechterbeziehungen (so eben auch Homosexualität) sind für ihn damit Verkörperungen unterschiedlicher Formen von Spiritualität, eine Möglichkeit im Körperlichen das Göttliche zu erfassen.

Diese Thesen sollen etwas später im Mittelpunkt meiner Betrachtungen stehen. Vorher aber einige Marginalien zu den Reaktionen auf Rosanows „Menschen des Mondlichts".

Nach Erscheinen riefen die Anhänger der orthodoxen Kirche: „Blasphemie!" „Skandal", schrie der Großteil der literarischen Öffentlichkeit. An dieser Einschätzung hat sich bis heute grundsätzlich in breitem Maße in Rußland nichts geändert.

Rosanow gehört nicht zu den beliebtesten Vertretern der russischen Kulturrenaissance der Jahrhundertwende, die nach einer jahrzehntelangen weitgehenden Tabuisierung in der Sowjetunion im heutigen Rußland zahllose Neuauflagen und reges wissenschaftliches Interesse erfahren. Das Interesse an ihm ist verglichen mit dem an anderen russischen Religionsphilosophen wie Wladimir S. Solowjow, Nikolaj A. Berdjaew und Pawel W. Florenski relativ gering, obwohl in den letzten vier Jahren auch hier Veränderungen eingetreten sind.

Seine „Menschen des Mondlichts" aber werden im großen und ganzen mit Schweigen übergangen. Hin und wieder allerdings beginnt man schon unter dem Mäntelchen der Toleranz, die Schamröte zu verbergen und in Überblicksdarstellungen wenigstens den Inhalt des Buches knapp zu benennen. Aber selbst bei jungen Vertretern der russischen Intelligenz klammert man gern Rosanows schließliche Bejahung der körperlichen Homosexualität aus und bezieht sich nur auf das Geistige. In der Frankfurter Studentenzeitung „Kulturologe" fand ich folgende Anwendung Rosanowscher Thesen aus „Menschen des Mondlichts" auf die Gegenwart: „Ein anderer ist auch als Mann geboren worden, doch schon als Kind mag er allein sein und meidet laute Kinderspiele. Er lernt früh lesen und ist gut in der Schule, nur im Sportunterricht hapert es bei ihm ein bißchen. Dafür wird er regelmäßig von seinen Schulkameraden ausgetrickst. Als Heranwachsender und auch später als reifer Mann bleibt er in Sachen Sex weit hinter seinen Altersgenossen.

Vielleicht heiratet er auch und wird ein treuer Ehemann und guter Familienvater sein. Höchstwahrscheinlich aber bleibt er sein ganzes Leben lang ledig. Wäre er noch ein paar Jahrhunderte früher geboren worden oder hätte er eine strenge religiöse Erziehung genossen, würde uns die Tatsache, ihn einmal in eine Mönchskutte gekleidet zu begegnen, nicht verwundern. Allerdings, da er am Ende des aufgeklärten zwanzigsten Jahrhunderts lebt, widmet er sich der Wissenschaft, Literatur, Musik oder wird zu einem ausgezeichneten Computerspezialisten bzw. Gentechniker. Im schlimmsten Fall wird er homosexuell, arbeitslos, Alkoholiker oder Junkie."  Die Ausübung des homosexuellen Aktes wird immer noch eher als Perversion angesehen, als daß man bereit wäre, sie als normale Variante der Sexualität zu akzeptieren.

Doch läßt die Herausbildung homosexueller Interessengruppen in Moskau und Petersburg und auch in anderen Städten Rußlands, sowie eine neue schwule Texte generierende Dichtergeneration wie Jewgeni Charitonow, Dmitri Prigow, Nikolaj Kolljada, Ljudmilla Woronzowa, Olga Krause, Alexander Schatalow u. a. auf einen baldigen Paradigmenwechsel hoffen , der auch die zum Teil noch recht konservative Landschaft der Geisteswissenschaft zu erneuern hilft.

Doch auch in Westeuropa tut man sich mit der Analyse der „Menschen des Mondlichts" schwer. Meist wird das Werk im Kontext von Rosanows allgemeinen Vorstellungen über Geschlechterbeziehungen, speziell heterosexueller erwähnt, ohne es zu analysieren, wodurch es teilweise in einen anderen Zusammenhang gerät, der ihm nicht gerecht wird. Oder man verbirgt Rosanows „Liebeserklärung an die Homosexualität" hinter dem Schleier rationalistischer Theoriebildung bzw. die Problematik hinter rationalisierender Begrifflichkeit, die für den Forscher den notwendigen Abstand schafft, um sich überhaupt der Thematik zu nähern. So schreibt H. Stammler in seinem Buch über Rosanow folgendes:

„Vom Standpunkt der Kirche aus war er gewiß einer der skandalösesten Rebellen, aber wenn er rebellierte, so nicht im Namen der selbstgenügsamen autonomen Vernunft, sondern eines dionysischen Prinzips, der phallischen Götter von Zeugung, Geburt und Fekundität gegen die spiritualisierte, ethisierte Gottheit des Christentums."

Man scheut sich in der slavistischen Fachliteratur immer noch vor der Benennung der auch für viele im Alltag oft noch so schwer auszusprechenden Begriffe wie Homosexualität, Schwule, Lesben, Transsexuelle etc.

Eine in gewissem Sinne kapitulierende Hilflosigkeit vor den Widersprüchen in Rosanows Oeuvre drückt sich auch in folgender Feststellung aus:

„Solch einen Schriftsteller wie Wasili Rosanow konnte es nur in Rußland geben."

Doch wenn schon die historische Persönlichkeiten und Ereignisse schließlich oft relativierende Gegenwart sich immer noch schwer mit diesem Buch tut, stellt sich natürlich die Frage nach dem zeitlichen Rahmen, in dem es entstehen konnte. Darauf möchte ich noch eine kurze Antwort geben, weil dies, wie ich glaube, die Widersprüche in Rosanows Werk und die widersprüchlichen Reaktionen darauf zu deuten hilft.

Die Periode, in der Rosanows „Menschen des Mondlichts" entstanden, bezeichnet man auch als „Silbernes Zeitalter der russischen Literatur und Kultur" (ca. 1890-1918) bzw. als russische Kulturrenaissance. Das hängt damit zusammen, daß die vorrevolutionäre, die Gesellschaft durch eruptive Umwälzungen (Revolution von 1905, 1. Weltkrieg) erschütternde Periode, auch auf geistigem Gebiet von Veränderungen eines bis dahin in Rußland nie gekannten Ausmaßes gekennzeichnet war. Die Suche nach neuen Visionen wurde damals zu einem konstituierenden Lebensbestandteil vieler Intellektueller.

Es entstanden Gruppen, die sich der Verbesserung der sozialen Lage im Lande widmeten und die genug Raum boten, soziale Fragen zu diskutieren, ohne diese schon auf ein eindeutig marxistisches Schema reduzieren zu müssen.

Bestimmte Vertreter der Intelligencija bemühten sich, traditionelle am philosophischen Idealismus bzw. an Glaubenssätzen der orthodoxen Kirche orientierte Denksysteme weiterzuentwikkeln (z. B.: Pawel W. Florenskij, Nikolaj F. Fedorow, Nikolaj A. Berdjaew). Andere wandten sich völlig von den von der Kirche als Institution vertretenen Anschauungen ab und versuchten, eine neue Beziehung zum Christentum zu finden („Gottsuchertum", „Gottbauertum"). Es existierte aber auch eine rigide Ablehnung jedweder religiöser Vorstellungen, die schließlich in einem radikalen Atheismus bzw. Materialismus gipfelte. Für bestimmte Kreise bot sich auch Hoffnung im Glauben an eine sich mit beispiellosem Tempo entwickelnde Naturwissenschaft, die ihrerseits die Evolution verschiedener Denksysteme forcierte. Eine bestimmte Gruppe der Intelligencija wandte sich sogar unter dem Oberbegriff „Okkultismus" zusammenzufassenden Strömungen (z. B.: Spiritismus, Theosophie oder Anthroposophie) zu.

Diese Grenzen und Werte in jeder Hinsicht in Frage stellende Periode mußte natürlich auch Umbrüche in Fragen des Verständnisses vom Geschlecht hervorbringen.

Es bildeten sich Ansätze einer schwul-slesbischen literarischen Szene heraus. Dazu gehörten Autoren, die sich offiziell in ihrem Schaffen zur homosexuellen Liebe bekannten (z. B.: Michail A. Kusmin, Lidija Sinowjewa-Annibal). Es existierten Anfänge einer „homosexuellen Salonkultur", zum Beispiel die sogenannten Hafiz-Abende im „Turm" Wjatscheslaws Iwanows, an denen sich zum Beispiel der Dichter Sergej Gorodezki, der Maler Konstantin Somow und der deutsche Rußland-Kenner und Übersetzer Johannes von Günther beteiligten.

Doch bei all den genannten Gruppen muß man davon ausgehen, daß sich Toleranz und Verständnis meist auf das bestimmte in ihrem Verständnis zu revolutionierende Gebiet bezogen. Es gab kaum gruppenübergreifende Konzepte, so daß ein allgemeiner gesellschaftlicher Konsens, zum Beispiel in Geschlechterfragen, auch nicht zu erwarten war. Hinzu kommt die organisatorische Instabilität vieler Gruppen, die häufig zerfielen. Neue religiöse aber auch soziale und philosophische Ideen wurden meist mit einer traditionellen Sexualmoral verbunden. So äußerte sich A. Belyj, Rußlands berühmtester symbolistischer Autor, der sich von traditionellen Denk- und Religionssystemen gelöst hatte und im Jahre 1913 Anthroposoph wurde, entsetzt über einen Berlin-Besuch.

Dabei nennt er Homosexualität zusammen mit allen anderen „Widerwärtigkeiten", die er in der deutschen Hauptstadt in den zwanziger Jahren antrifft:

„ […] die elegant gekleidete Dame mit dem bescheiden gesenkten Gesicht ist auf dem Weg ins […] Freudenhaus: sich dem Wahnsinn perversester Widerwärtigkeiten hinzugeben; der schmachtend blickende Jüngling, der die Aufmerksamkeit auf sich zog, 'foxtrottet' ins […] Café der Homosexuellen; in Berlin sind unverblümt einige hundert Cafés für Homosexuelle in Betrieb. Und das unschuldige Mädchen mit der roten Schleife - Horror: ein alter Mann nähert sich ihr, […] und sie geht mit ihm fort - wohin? Organisierter Wahnsinn, Unsinn, Phantastik und Widerwärtigkeit - in all das beginnt Berlin, wenn man angespannt schaut, langsam zu zerfallen; alles - ist verkehrt herum und alles ist verrückt."

Vereinzelt existierten Versuche, voneinander entfernte Bereiche, wie zum Beispiel Religion und Sexualität miteinander zu verbinden. Jedoch argumentierte man in diesen Fällen selten offen mit Begriffen wie Geschlecht, Sexualität oder Homosexualität, sondern verbarg sich hinter Bezeichnungen wie Geist-Fleisch-Dualismus, den man überwinden müsse, um den neuen androgynen Menschen zu schaffen.

Rosanow nun aber sprengt diese Gruppengrenzen. In seinen „Menschen des Mondlichts" will er Homosexualität, Christentum, Philosophie und wahrscheinlich ein aus der Theosophie Elena P. Blavatskajas entlehntes Heidentum zu einem Konzept verbinden, womit er sich zwischen alle Stühle setzte.

Obwohl sich Rosanow teilweise auf zu seiner Zeit moderne Sexualtheorien stützt (z. B.: Kraft-Ebbing) geht es ihm nicht um eine medizinische, sondern eine philosophische Begründung des Phänomens Homosexualität. Es interessiert ihn, den Homosexuellen als Typ zu erfassen, der keineswegs in den Bereich der „Perversionen" eingeordnet werden darf, sondern, der das in jeder historischen Epoche vorhandene „Andere" repräsentiert.

Dabei sieht er dieses „Andere" nicht als Gegensatz zum „Normalen", das vernichtet werden müsse. In dem sich aus dieser Opposition entwickelnden Spannungsfeld sieht er einen wichtigen Stimuli der gesamten Kulturentwicklung. Rosanows Thesen sind gekennzeichnet von dem für die russische Philosophie jener Zeit charakteristischen Streben nach dem Absoluten. Dabei wird jede Teilerscheinung immer als eine dem Weltganzen innewohnende Potenz gesehen, die die Entwicklung des gesamten Weltorganismus beeinflussen kann. Er steht damit in der Tradition der russischen, vom Philosophen Wladimir S. Solowjow zum Höhepunkt gebrachten All-Einheitslehre, die das Weltganze als Organismus betrachtet, dessen Teile in einer ständigen Wechselbeziehung zueinander stehen, wobei sich jede Veränderung des Teils sofort auf das Ganze auswirkt.

Für ihn kann Homosexualität damit nicht, wie auch heute noch vereinzelt von Laien und Wissenschaftlern behauptet, Erscheinung einer bestimmten Stufe historischer Entwicklung sein.

Homosexualität gerät damit automatisch zu einer dem Weltganzen von Anfang an innewohnenden Potenz, die sich lediglich in verschiedenen Kulturepochen unterschiedlich artikuliert. Rosanow schreibt:

„ […] und wir können annehmen, daß in diesem Weltkessel, in dem das Wirrwarr der Weltnotwendigkeit und des Weltbestandes zusammengerührt wurde, bereits bestimmte Elemente dieses Widerstandes, dieser Gegennatürlichkeit vorhanden waren; schon dort in diesem ur- oder besser vorweltlichen Kessel brodelten Strömungen und Gegenströmungen, lief die dampfende Materie hierhin und dorthin, gleich einer Schraube, ringförmig, bei weitem nicht nur in eine vorgegebene Richtung […]"

Sich dem vorgegebenen Naturgesetz zu widersetzen ist für Rosanow schon Indiz für die Geburt von etwas Geistigem, einer bestimmten Form von Spiritualität.

„Das Individuum begann, als plötzlich zum Naturgesetz gesagt wurde: 'Halt! Ich lasse dich hier nicht hinein!' Derjenige, der es nicht hineinließ, war der erste 'Geist', die erste Nicht - 'Natur', Anti - 'Mechanik'. Die 'Persönlichkeit' trat also in der Welt in dem Moment zutage, als das 'Gesetz zum erstenmal zerstört wurde'. Das meint Zerstörung von Gleichförmigkeit und Unveränderlichkeit, von Norm und 'Gewohntem', von 'ursprünglich' und 'allgemein Erwartetem.'"

Um seinen Thesen auch äußerlich den Anspruch von Historizität zu verleihen, führt er die allgemein als Ursymbole anerkannten Zeichen: Sonne und Mond ein, auf deren Opposition als Hintergrund gestützt, er sein Gedankengebäude weiterentwickelt. Die Besonderheit der „Mondmenschen" besteht nach Rosanows Meinung darin, daß ihnen alles, „was die Sonne gebiert" - Trennung, Unterscheidung, Rationalität, Vielfalt, Farben, Vermehrung - nicht entspricht. Die quasi aus der göttlichen Einheit in die materielle Dualität gestürzte Welt ist diesen Menschen fremd. Mond steht hier für Transzendenz, mystische Erleuchtung, Intuition, Kontemplation, Hinwendung zur anderen göttlichen Welt. Die die Sinne ablenkende Vielfalt wird ersetzt durch Konzentration auf das höhere Ziel.

Die Verwendung der Mondsymbolik könnte bei Rosanow auch durch eventuell vermittelte oder direkte Rezeption theosophischer Thesen E. P. Blavatskajas hervorgerufen worden sein. Nach ihrer Lehre, die im Rußland der Jahrhundertwende, vor allem in Symbolistenkreisen eine breite Rezeption erfuhr, waren die Vorfahren der Erdenmenschen, die sogenannten „Mond-Pitris" (Theosophischer Terminus - B. S.-D.), die sich durch besondere Eigenschaften wie zum Beispiel eine ausgeprägte Intuition auszeichnen.

Daraus könnten auch Rosanows Thesen herrühren, daß im Blut der Homosexuellen angeblich die Erinnerung an eine sehr ferne Vergangenheit lebendig geblieben sei. Deshalb seien viele der ihm bekannten Homosexuellen eher als konservativ zu bezeichnen:

„Fast immer handelt es sich um konservative Personen ('das Devon'), sie mögen das Neue nicht, besser gesagt, das Neumodische, das 'Moderne'. Es zieht sie immer zurück in die Tiefe der Jahrhunderte. Aus ihnen spricht das alte Lied, es ruft sie zu sich, ihr 'Paradies' ist metaphysischer Art; es lebt in ihren Knochen, ihrem Blut, in ihren Geschmacksempfindungen. Handelt es sich um einen Komponisten, wird seine Musik eine besondere sein, handelt es sich um einen Maler, wird sein Bild ein besonderes sein; daß ihre Philosophie eine besondere ist, davon zeugen Sokrates und Platon."

Historisch zu argumentieren, bedeutet für Rosanow auch, den Homosexuellen in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen unterschiedliche Plätze zuzuweisen. Legenden um uralte Mysterien stehen dabei im Mittelpunkt seines Interesses. Besonders die zu Ehren der heidnischen Götter Moloch und Astarte veranstalteten Einweihungsriten faszinieren ihn. Rosanow konstatiert, daß es den Männern nur in Frauenkleidern gestattet war, vor die weibliche Gottheit hinzutreten, da diese eine Abneigung Männern gegenüber gehegt haben soll. Frauen wiederum durften vor dem männlichen Gott nur in männlicher Bekleidung erscheinen. Aus den diesen Göttern besonders ergebenen Personen, hätte sich dann der Priesterstand entwickelt. Auch im Christentum sieht Rosanow den Priesterstand schließlich durch Menschen vertreten, die eine natürliche Abneigung der Paarung mit dem Gegengeschlecht gegenüber auszeichnet.

Bis zu diesem Punkt seiner Argumentationslinie ist Homosexualität für Rosanow vor allem geistige Homosexualität, die sich lieber mit Gott-Vater bzw. seinem Sohn, also mit dem als männlich identifizierten Geistigen paart und nicht mit dem Weiblichen, das von ihm als Ausdruck der Körperlichkeit verstanden wird. In gewissem Maße entwickelt er hier Überlegungen zum Typ des sogenannten 'Androgynen', der weibliches und männliches gleichermaßen in sich trägt und deshalb nicht auf eine praktische Umsetzung seines Geschlechtstriebes angewiesen ist, da die Befruchtung ständig in ihm und dabei geistig vor sich geht.

Doch schon bald wird ihm klar, daß die These vom sich nicht dem Geschlechtsakt widmenten Androgynen, seinen eigenen, in bisherigen Publikationen vertretenen Überzeugungen zuwiderläuft. Denn das Besondere seines Denkens besteht ja darin, daß er letztendlich immer bestrebt war, den Dualismus von Geistigem und Natürlichem zu überwinden und zu einem organischem Ganzen zu verbinden. Es existieren Aussagen von ihm, wo er jung verheirateten Paaren empfiehlt, sich direkt auf dem Altar in der Kirche zu paaren. Eine Biograph Rosanows, A. Pyman, schrieb sogar:

„He always wrote with his hand on his penis."

So mußte ihn die logische Konsequenz seines eigenen Denkansatzes schließlich dazu führen, auch die körperlichen Aspekte der Homosexualität anzuerkennen. Dies drückt er folgendermaßen aus:

„Es ist nicht wahr, daß 'man sich paaren will', weil ein Geschlechtsorgan vorhanden ist: sondern 'der Wunsch, sich zu paaren', ist schon vorher da, unabhängig davon und erst daraus ergibt sich dann die Frage, 'existiert denn ein Organ für das Gewünschte?' Die Homosexualität ist solch ein Fall, wo 'kein Organ für das Gewünschte' vorhanden ist. Aber wie der 'Wunsch' vor dem Organ da ist, ihm metaphysisch vorausgeht, bleibt dieser Wunsch natürlich auch erhalten, brennt er im Menschen, unabhängig davon, welche Geschlechtsorgane dieser besitzt. 'Es gibt kein Organ' - aber das Feuer brennt: das ist das Wesen der Homosexualität. 'Der Durst quält', aber weder Mund noch Kehle sind vorhanden: es ist doch denkbar, daß 'das Verlangen' nicht durch Mund oder Kehle hervorgerufen wird, sondern aus dem Blut kommt von dem dort enthaltenen Verhältnis fester und flüssiger Bestandteile. Das letzte Beispiel sollte besonders den Medizinern verständlich sein: 'Ja, was soll man machen - da wird man sich halt den Bouillon per anum zuführen müssen.' Das eben ist Homosexualität: das Bedürfnis des jeweiligen Organismus, seines 'Blutes', seiner 'Seele' nach männlichem Samen, nach dem männlichen Organ, der männlichen Leidenschaft, nach der charakteristischen männlichen Hitze; aber das typische aufnehmende Organ hierfür, das typische jedoch nicht absolute, eine Scheide und Gebärmutter fehlen; und dann geht eben die 'Speisung mit männlichem Feuer' so oder anders vor sich, oder irgendwie noch anders."

Gerade die Anerkennung auch der körperlichen homosexuellen Liebe war es, die Rosanow auf besonders starke Ablehnung stoßen ließ. Wurden die im Rußland der Jahrhundertwende entwickelten „Philosophien der Liebe" , angefangen von den russischen Religionsphilosophen bis hin zu den Symbolisten mit ihrem „Kult der schönen Dame" gepriesen, blieb Rosanows „Philosophie der homosexuellen Liebe" ein Exotikum, das man besser nur mit einem Nebensatz überging.

Sicher handelt es sich bei Rosanows Thesen um Konstruktionen, die spekulativ sind und die sich selbst kaum auf eine philosophische Tradition berufen können. Aber wie sollten sie auch?

Ich halte Rosanows Versuch, den vor allem im Rußland sehr ausgeprägten Bereich der Entwicklung einer „Philosophie der Liebe" auch mit der homosexuellen Liebe zu bereichern für sehr wichtig. Ich denke, es ist notwendig, sich nicht nur daran zu erinnern, sondern seine Ideen auch zu einem Gegenstand weiterführender Forschungen zu machen.




 

Warum nur konnte er nicht lieben

Warum nur konnte er nicht lieben?



Warum nur konnte er nicht lieben? Die Gogolforschung und ihre Mystifikation einer Neigung.

In: Forum Homosexualität und Literatur 20 (1994), Siegen 1994, S. 29 - 41.


Sie waren süß und quälend zugleich, diese schlaflosen Nächte. Er saß krank im Sessel. Ich neben ihm. Der Schlaf wagte nicht, meine Augen zu streifen. Es schien, als achte er schweigend und unfreiwillig die Heiligkeit der Nachtwache. Schon seit zwei Nächten sagten wir einander du. Wieviel näher war er mir dadurch! Er saß da - noch immer so sanft, ruhig und schicksalsergeben. Mein Gott, mit welcher Freude, mit welcher Heiterkeit würde ich seine Krankheit auf mich nehmen, und, wenn mein Tod ihm die Gesundheit zurückbringen könnte, mit welcher Bereitwilligkeit würde ich mich opfern. [...] Diese Nacht war ich nicht bei ihm. [...] Ich sah ihn mit den Augen meiner Seele. Ich beeilte mich, am Morgen des folgenden Tages zu ihm zu gehen und fühlte mich dabei wie ein Verräter. Er lag noch im Bett, als er mich begrüßte. Er sah mir mit jenem engelsgleichen Lächeln entgegen, mit dem er mich für gewöhnlich willkommen hieß. Er gab mir die Hand. Drückte sie liebevoll. »Du bist mir untreu geworden.« - »Mein Engel«, sagte ich zu ihm. »Ich habe selbst wie du gelitten. Ich habe mich die ganze Nacht gequält [...]« [...] Er drückte meine Hand. Wie wog das all die Leiden auf, die mir die vergangene Nacht eingebracht hatte. [1]
Diese Zeilen schrieb der russische Schriftsteller Nikolai W. Gogol im Gedenken an seinen dreiundzwanzigjährigen Freund Iosif Michailowitsch Wielgorski [2], der im Jahre 1839 in Rom an Schwindsucht starb. Mit für ihn einzigartiger Offenheit beschreibt der Schriftsteller seine Gefühle und Gedanken, die von jenem Wechselspiel aus Leid und Schmerz berichten, dem Gogol in jener Zeit ausgesetzt war. Es ist nicht nur das Pathos, mit dem man eines Dahingegangenen gedenkt, wie uns manche Gogolforscher glauben machen wollen. Seine Worte sind voller Zärtlichkeit, voll gespannter Erregung, die in einer »üblichen« Beziehung zwischen zwei Männern kaum mit einer solchen Intensität hervorbrechen würde:
Ich ging um 10 Uhr zu ihm. Er war schon über eine Stunde allein. Seine Gäste waren schon seit langem gegangen. Er war allein und [...] Langeweile spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Er sah mich. Bewegte leicht die Hand. »Du mein Retter!« sagte er zu mir. Sie klingen mir bis heute in den Ohren, diese Worte. »Du mein Engel! Hast du dich gelangweilt?« »Und wie ich mich gelangweilt habe!« antwortete er mir. Ich küßte ihn auf die Schulter. Er bot mir seine Wange dar. Wir küßten uns. Er drückte noch immer meine Hand. [3]
Dieser in der Forschung relativ wenig beachtete Text mit dem Titel Nächte in der Villa (Notschi na ville) aus dem Jahre 1839 enthält doch klare Hinweise zur Lösung eines Problems, das Gogolforscher bereits seit Generationen beschäftigt: das Sexualleben des Schriftstellers. In beinahe allen Untersuchungen zu Leben und Werk des Dichters werden wir kontinuierlich mit derselben Frage konfrontiert: Warum nur konnte er nicht lieben? Man tastet sich am Rande des Problems entlang, erfindet die seltsamsten Antworten und fürchtet sich vor einer Antwort am meisten, die da lauten könnte: Er liebte, aber er liebte die Männer mehr als die Frauen.

Tatsächlich kann man Gogol keine einzige Liebesbeziehung zu einer Frau nachweisen. Verbindungen zu Damen der Gesellschaft (Aleksandra O. Smirnowa [4], Marija P. Balabina [5]) waren rein geistiger Natur und von didaktischen Intentionen geprägt. Seine Briefe an diese Frauen wie auch an seine Schwestern zeigen, daß es ihm vor allem darauf ankam, Lebenserfahrungen zu vermitteln bzw. philosophische Gedanken auszutauschen. Obwohl Gogol in seinen Briefen insgesamt sehr zurückhaltend ist, sind doch bezeichnenderweise seine Schreiben an Männer von weitaus tieferen Gefühlen geprägt als die an weibliche Korrespondentinnen.
Auffällig ist auch, daß gerade die im Jahre 1839 geschriebenen Briefe an seine Freunde Hinweise auf einen zutiefst depressiven Gemütszustand Gogols enthalten, der bei ihm durch die Krankheit und den Tod des jungen Grafen Wielgorski hervorgerufen wurde. [6] Noch ein weiterer Umstand regt zum Nachdenken an. Von den Nächten in der Villa sind nur Fragmente erhalten. Die Beschreibung der ersten und der letzten Nacht ist vorhanden, der Zwischenteil fehlt, und der Text bricht am Ende mitten im Satz ab. Hatte Gogol einen Grund, den vielleicht zu offenherzigen Mittelteil zurückzuhalten, oder haben beflissene Nachlaßverwalter das eliminiert, was Gogol in ein für die Nachwelt unrühmliches Licht hätte bringen können?

Die Literaturwissenschaft jedenfalls baute sich ihr mehr oder weniger phantastisch anmutendes Bild von Gogols Liebesleben auf, das alle Schattierungen aufweisen durfte, nur die eine, besonders naheliegende nicht.

Für die sowjetische Gogolforschung war Sexualität insgesamt jahrzehntelang ein Tabu. Deshalb wird hier die Problematik geschickt umgangen, indem man das Privatleben des Autors relativ unbeachtet läßt, sich auf soziale Konflikte im Werk konzentriert, das Werk als objektiviertes Produkt des Schaffensprozesses betrachtet, um sich damit auch gleichzeitig gegen die bürgerliche Literaturwissenschaft abzugrenzen. Manch einer lobt auch Gogols »bewußte Enthaltsamkeit« oder versucht unter starken Anstrengungen doch noch Anhaltspunkte für Beziehungen Gogols zu Frauen, und mögen sie auch noch so vage sein, zu konstruieren. [7] Ein sowjetischer Forscher allerdings (Iwan D. Jermakov [8]) nutzte die zu Beginn der zwanziger Jahre noch herrschende relative Freiheit des wissenschaftlichen Wortes und veröffentlichte eine Studie, die Gogols Biographie im Lichte Freudscher Psychoanalyse interpretiert. Er legte damit zugleich den Grundstein für die sich im Westen nach dem zweiten Weltkrieg herausbildende psychoanalytische Richtung der Gogolforschung. Jermakov konstatiert eine ablehnende Haltung Gogols gegenüber dem Vater (gegen diese These spricht die Ehrerbietung, mit der Gogol in seinen Briefen mit dem Vater und über ihn spricht) und einen Ödipuskomplex in bezug auf die Mutter. Wichtige Charakterzüge Gogols seien ein ausgeprägter Narzißmus und Autoerotismus gewesen.

In der westeuropäischen und amerikanischen Gogolforschung nahmen die Spekulationen um die Sphinx Gogol grandiose Ausmaße an. Auf jeden Fall sei er unnormal, schizophren, dämonisch. Seine Persönlichkeit flößt Angst ein. So interessant und tiefgründig die Untersuchungen insgesamt auch sein mögen, die Person Gogol steht in keinem günstigen Licht.
Maximilian Braun beginnt seinen biographischen Exkurs damit, daß Gogol nicht ganz normal gewesen sei:
»Alles in allem können Gogols wichtigste Charakterzüge wie folgt zusammengefaßt werden: eine sehr ausgeprägte Neigung zu starken, oft paradoxen Kontrasten; eine zwielichtige, in irgendeiner Weise gestörte Einstellung zum Sexus, ein ständiges Bedürfnis, sich 'unterwegs' zu fühlen, irgendwelchen fernen, noch nicht klar erkennbaren Zielen zuzustreben, ein hypochondrisch gefärbtes Interesse für ungesunde deprimierende Erscheinungen und Symptome. Es kann erwartet werden, daß sich solche Eigenschaften auch in Gogols künstlerischem Schaffen auswirken.« [9]
Varianten zu und Gründe für die sexuelle Ausnahmestellung Gogols gibt es in der Forschung in unermeßlicher Fülle. Der Spannbreite werden kaum Grenzen gesetzt. Gogols erstes sexuelles Verlangen soll auf die leibeigenen Dienstmädchen der Mutter gerichtet gewesen sein. Von diesem Erlebnis sei bei ihm ein schwerer moralischer Schock zurückgeblieben. [10]
Beliebt ist auch die These von einer angeblichen Impotenz Gogols, die man auch als Symbole in Gogols Werken exemplifiziert fände, zum Beispiel in seiner Erzählung Die Nase (Nos):
»This nasal appendage, suddenly endowed with an independent existence, may well have a sexuell significance that escaped the autor. An impotent Gogol chose to imagine a part of himself.« [11]
In Anlehnung an Freudsche Thesen wird Gogols Liebesleben auch von Hugh Mc Lean [12], Daniel Rancour-Laferriere [13], Frederik Driessen [14], Alexander Obolensky [15] u. a. interpretiert. Es wird festgestellt, daß Triebbefriedigung bei Gogol immer mit Angst verbunden war. Vor allem die Angst vor dem Vater sei es gewesen, die Gogol in die religiöse Askese trieb. Mc Lean schließt nicht aus, daß Gogol auf seiner ständigen Suche nach Liebe auch Männerfreundschaften als Rettung aus dem Dilemma des Liebesdefizits angesehen habe. Allerdings überwinde er auch dieses Stadium schnell und neuerliche Objektwahl führe ihn schließlich zu Tieren und Dingen. Einige Forscher (z. B. James B. Woodward [16]) stellen fest, daß sich in einigen Werken (unter anderem in den Toten Seelen [Mjortvyje duschi]) ein ständiges Wechseln der Geschlechterrollen ereigne. So erscheine die männliche Person Manilow mit weiblichen Attributen behaftet, während die weibliche Person Korobotschka für Männer typische Eigenschaften aufweise. Leider geht Woodward bei der Interpretation von so gearteten Darstellungen nicht über den von ihm selbst gesteckten Rahmen der Symboldeutung hinaus.

Von verschiedenen Forschern wird auch eine sado-masochistische Veranlagung des Dichters nicht ausgeschlossen. [17] Ein dämonischer Gogol, der den Anfechtungen eines ihn in die Tiefe reißenden dunklen und undurchsichtigen Unterbewußtseins verfallen ist und immer mehr in den Strudel unkontrollierbarer aber auch nicht realisierbarer Leidenschaft gerät - das ist das Bild des russischen Dichters, das vor uns entsteht, wenn wir die Untersuchungen zu seinem Sexualleben betrachten.

Ein Wissenschaftler allerdings hatte den Mut, sich bereits im Jahre 1976 mit Hinweisen auf eine offensichtlich bei Gogol vorhandene homosexuelle Neigung auseinanderzusetzen - Simon Karlinsky. [18]
Karlinsky erklärt die jahrzehntelange Zurückhaltung in bezug auf eine offene Beschreibung von Gogols Homosexualität in seinem Vorwort:
»One of the finest of western biographers of Gogol, Vsevolod Setchkarev, had intentended to treat this subject [Homosexualität, B. S.-D.] in the original german version of his book (published in Berlin in 1953). He decided not to do so when a senior colleague said that he would try to ruin Setchkarev.s academic career if his book asserted the fact of Gogols homosexuality.« [19] 
Obwohl sich die Zeiten geändert haben und Jahrzehnte vergangen sind, tut sich die Gogolforschung immer noch schwer damit, eine Tatsache wenigstens ins Kalkül zu ziehen, die derartig offensichtlich ist.
Man kann Karlinsky vollkommen zustimmen, wenn er feststellt:
»[...] an examination of Gogols homosexual orientation within the context of his biography and writings may provide the missing key to the riddle of his personality.« [20] 
Nun soll die These, daß Gogol homosexuell war, unter anderem mit Hilfe der Argumentation Karlinskys dargelegt werden. Auf diese Weise ist es meiner Meinung nach möglich, ein genaueres und tiefgründigeres Bild von der Person Gogol zu erhalten.

Der amerikanische Wissenschaftler zeichnet das Bild Gogols vor dem Hintergrund einer kenntnisreichen Beschreibung der Petersburger kulturellen Situation, in der im 19. Jahrhundert auch mehr oder weniger öffentlich bekannte homosexuelle Kreise eine Rolle spielten. Es existierte ein Kreis um den holländischen Botschafter Theodore van Hukeren. Der Schriftsteller Philip Oigel (Wiegel) und der Bildungsminister Sergej S. Uwarow machten keinen großen Hehl aus ihrer homosexuellen Veranlagung. In den gehobenen Gesellschaftskreisen scheint eine gewisse Toleranz in bezug auf Homosexualität geherrscht zu haben. Zum Beispiel hat sich Puschkin über solche Beziehungen relativ verständnisvoll geäußert. Es stellt sich nun die Frage, warum sich Gogol derartig schwer damit tat, unverkrampfter mit seiner Neigung umzugehen. Karlinsky weist die Gründe dafür überzeugend nach. Einerseits muß man davon ausgehen, daß Gogol niemals wirklich zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen St. Petersburgs gehört hat. Aber der Hauptgrund bestand andererseits zweifellos in seiner tiefen Religiosität, die ihm von Kindheit an vor allem durch seine Mutter vermittelt wurde. Immer und immer wieder erinnerte er sich später an deren Schilderungen der furchtbaren Qualen, die die Sünder beim Jüngsten Gericht zu erdulden haben. Diese religiöse und soziale Prägung legt es nahe, daß Gogol selbst seine Gefühlsregungen als Sünde verstand.

Der äußerlich unterdrückte Trieb behielt allerdings seine explosive Kraft und eroberte sich einen festen Platz in Gogols Unterbewußtsein, von wo aus er sich in unterschiedlich verschlüsselter Symbolik in Gogols Werken materialisierte. Bevor der Einfluß des Unbewußten auf Gogols Wirken genauer betrachtet wird, soll seine immerwährende Suche nach einer festen Freundschaft zu einem Mann kurz umrissen werden. Gogol erfuhr in den Momenten, in denen er sich aus seinem inneren Versteck herauswagte, meistens Ablehnung und Unverständnis. Vielleicht liegt ein Grund für das Scheitern angestrebter Liebesbeziehungen auch darin, daß ihn die Angst vor völliger Offenbarung daran hinderte, offen zu sich und dem anderen zu sein.

Karlinsky stellt fest, daß sich bereits in den Gymnasialjahren in Neschin Bestrebungen Gogols zum Aufbau einer Jungenfreundschaft bemerkbar machten, die zu mehr tendierten, als es in einer Freundschaftsbeziehung zwischen Knaben gleichen Alters üblich war. Er weist in diesem Zusammenhang auch auf Besonderheiten im Verhalten Gogols hin, die ihn von anderen unterscheiden mußten und deshalb in Erinnerungen von Zeitgenossen und Biographien immer wieder besonders herausgestrichen wurden. Gogol liebte es, sich besonders gut und auffallend zu kleiden, er beschäftigte sich mit Handarbeiten, widmete sich der Kochkunst, spielte als Jüngling im Theater des Gymnasiums oft mit großem Erfolg Frauenrollen. [21]

Die erste tiefgehende Freundschaftsbeziehung verband Gogol in Neschin mit seinem Kommilitonen Gerasim I. Vysozki. Hier äußerten sich bereits seine Fähigkeit und sein Verlangen, sich für den Auserwählten aufzuopfern, ihm Pflege und Hilfe zuteil werden zu lassen. Als Vysozki, der an einer Augenkrankheit litt, im Krankensaal liegen mußte, wich Gogol kaum von seiner Seite und verbrachte beinahe seine gesamte Freizeit bei ihm. Briefe, die Gogol später nach Beendigung des Gymnasiums an ihn schrieb, enthalten deutlich erotische Untertöne. Allerdings handelt es sich hier um eine mehr von Gogol im Ideal angestrebte Beziehung. Aber es wird jedoch bereits deutlich, daß
»[...] there is every reason for anyone seriously interested in Gogol.s work to realise that his erotic imagination was primarily homosexual and his fear of his homosexual inclinations and his suppression of them is one of the principal themes of his writings, one of the main cause of his personal tragedy, and a contributing factor to his death.« [22]
Gogol suchte ständig nach Liebe. Er suchte etwas, was er von seinen heterosexuellen Freunden nie erwarten konnte (wie zum Beispiel Michail A. Maximowitsch, Michail P. Pogodin). Eine Ausnahmeerscheinung auf diesem Leidensweg stellte deshalb für ihn die Freundschaft mit dem jungen Grafen Wielgorski dar, der wahrscheinlich Gogols Gefühle in gewisser Weise erwiderte und ihm das erste und einzige Mal in seinem Leben wenigstens eine Ahnung von dem gab, was eine glückliche Beziehung zu einem geliebten Freund für ihn hätte bedeuten können. Nach dem Tode Wielgorskis sind Gogols Seele und sein Herz tief erschüttert. In seinen Briefen ist eine Schwermut auszumachen, die der Satiriker doch bis dahin so gut zu überspielen wußte.

Eine wertvolle Hilfe war für ihn deshalb in dieser Zeit der Historienmaler Aleksander A. Iwanow. Dieser wurde für Gogol nun zu einem wichtigen Vertrauten. [23] Iwanow plante ein großes Gemälde Christus erscheint vor dem Volk (Jawlenije Christa narodu; 1837 - 1857). Als Entwürfe für das Bild fertigte er auch Zeichnungen von Gogol und Wielgorski an, die im Bild zwei Gestalten aus dem Volk verkörpern sollten, das von Christus gesegnet wird. Es sollte so mit Hilfe einer Allegorie Gottes Vergebung für die angebliche Sünde dargestellt werden. Wie groß war die Wut und Enttäuschung Gogols, als Michail P. Pogodin trotz strengstem Verbot die Kopie einer Skizze Iwanows, die Gogol ihm sandte, veröffentlichte. Er fürchtete nämlich nun, das Publikum könne Iwanows Absicht erraten [24] und seine von Gerüchten umwitterte Beziehung zu Wielgorski könnte für alle offenbar werden.

Einen Hoffnungsschimmer stellte für Gogol schließlich die Freundschaft mit dem jungen Dichter Nikolai M. Jasykow dar. Er ging mit ihm auf Reisen, und sie lebten eine Zeitlang in einer Wohnung zusammen. Aus seinen Briefen an ihn spricht die Hoffnung auf Veränderungen in seinem Leben. Aller Wahrscheinlichkeit nach erhoffte sich Gogol auch in dieser Beziehung vom anderen mehr, als dieser zu geben bereit war. Allerdings hielten sich in Moskau bis zum Tode Jasykows im Jahre 1846 hartnäckige Gerüchte über eine nicht genau bestimmbare Abhängigkeit Jasykows von Gogol.

Der Konflikt zwischen Gefühlsleben und religiösen Überzeugungen wird bei Gogol in den vierziger Jahren immer stärker. Es wird vermutet, daß er sich in seiner Not dem geistlichen Vater Matwej [25] offenbart, der ihn derartig mit den fürchterlichsten Strafen Gottes bedroht, daß Gogol keine Möglichkeit für ein Weiterleben mehr sieht. Durch konsequente Verweigerung jeglicher Nahrungsaufnahme begeht der kranke Gogol im Jahre 1852 quasi Selbstmord.

Was sich in seiner natürlichen Existenz nicht offenbaren konnte, brach sich mit oft mißverstandener Symbolik in seiner schöpferischen Existenz Bahn. Es war für Gogol undenkbar, unverschlüsselt zu schildern, was ihn bedrückte und ängstigte. Ein immer wieder beschriebenes Ideal besteht für ihn in einer festen Männergemeinschaft, die begründet ist auf Treue und gegenseitiger Achtung, auf geistigem Verständnis. Besonders eindrucksvoll wird diese Idee dargestellt in Taras Bulba. Die Kämpfer, die sich in der Setsch [26] versammeln, um sich auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten, finden in dieser Gemeinschaft ihre höchste Erfüllung. Gogol beschreibt hier auch, worin er die größte Bedrohung sieht, nämlich im Ausbruch aus der Gemeinschaft durch die Liebe zu einer Frau.

Gogols Männergestalten wirken immer lebendig und kraftvoll, die Frauen dagegen eher wie in Schönheit erstarrte Statuen. Doch Gogol verachtet die Frauen nicht, und vielleicht soll durch diese als abstrakte Schönheitsideale dargestellten Frauen gleichsam um Vergebung dafür geworben werden, daß er nur fähig war, sie zu bewundern, aber nicht zu lieben. Bewunderung und Ehrfurcht rufen seine Heldinnen beinahe immer hervor.

Es gelingt Gogol oft, seine Gefühle zu verstecken, aber in mancher Erzählung ist eine verbrämte Erotik doch sehr deutlich zu spüren. Besonders charakteristisch ist in dieser Hinsicht der Mirgorod - Zyklus. In der Erzählung Wie Iwan Iwanowitsch mit Iwan Nikiforowitsch in Streit geriet (Kak posorilsja Iwan Iwanowitsch s Iwanom Nikiforowitschem) wird die gegenseitige treue Zuneigung zweier Freunde beschrieben, die wegen eines Gewehres zerbricht. Zu Beginn der Erzählung wird der Leser, wenn auch nur schemenhaft, mit homosexueller Erotik konfrontiert. Als Iwan Iwanowitsch Iwan Nikiforowitsch besucht, liegt dieser vollkommen nackt auf dem Diwan und präsentiert sich so dem Freund in seiner ganzen männlichen Schönheit. Gogol beeilt sich zwar, diesen Umstand zu erläutern (Iwan Nikiforowitschs Kleider werden gerade zum Lüften aufgehängt), dennoch ist die erotische Komponente unzweideutig. Auch das Streitobjekt (Gewehr) hat einen nicht zu unterschätzenden symbolischen Wert. Jeder der beiden Freunde möchte es besitzen, um damit dem anderen seine aggressive Männlichkeit zu demonstrieren. Letztlich würden sich auch beide wieder vertragen, wenn sich nicht eine Frau, die Haushälterin Iwan Nikiforowitschs in den Streit einmischte.

Weitere versteckte homosexuelle Symbolik ist ebenfalls in der Erzählung Der Wij auszumachen. Zu Beginn wird uns die Hauptperson, der Philosoph Choma Brut vorgestellt, der sich zusammen mit zwei Freunden auf den Heimweg macht. Eine alte Frau (die sich später als Hexe entpuppt) läßt sie bei sich übernachten, allerdings unter der Bedingung, daß sie an getrennten Plätzen schliefen, da sie sonst keine Ruhe habe. Einen Höhepunkt bildet die Beschreibung der Nachtwache Chomas in der Kirche. Choma wird von allerlei Geistererscheinungen gequält, und schließlich erscheint der König der Erdgeister - der Wij. Den Wij charakterisiert Karlinsky berechtigt eindeutig als phallisches Symbol (lange eiserne Wimpern, ausgestreckter Zeigefinger). Ein Mann richtet seinen Phallus (Finger) auf einen anderen Mann (Choma Brut). Dieser fühlt daraufhin ein unterdrücktes sexuelles Verlangen in sich aufbrechen. Die gesamte Szene findet in einer Kirche statt. Diese läßt sich in Gogols Bilderwelt als fest verwurzeltes Gegengewicht zu homosexuellen Neigungen verstehen. Choma hält diesen Spannungszustand nicht lange aus. Er stirbt.

Einen anderen Aspekt der Gefühlsspannungen zeigt die Erzählung Die Kalesche (Koljaska): Ein verheirateter Gutsbesitzer wird von einer Gruppe unverheirateter Offiziere besucht. Er fühlt sich zu ihnen hingezogen, aber letztendlich siegt seine Angst. Er versteckt sich in der Kalesche, was man symbolisch als Flucht in den Mutterbauch zurück deuten könnte.

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, Gogols Gesamtwerk zu interpretieren. Simon Karlinsky gibt noch eine Reihe interessanter Anhaltspunkte, aber die Möglichkeiten der Ausdeutung der homosexuellen Symbolik sind noch lange nicht ausgeschöpft.

Ansätze zu weiterführenden Forschungen bieten die Petersburger Erzählungen (Peterburgskije powesti) und die Toten Seelen (Mjortwyje duschi). Untersuchungen zur Biographie Gogols (z. B. über seinen Aufenthalt in Rom in den dreißiger und vierziger Jahren) könnten neue Erkenntnisse liefern. Zur Zeit erarbeitet das Moskauer Institut für Weltliteratur eine neue Ausgabe der Werke und Briefe Gogols. Es ist zu hoffen, daß im Zuge der Erschließung neuer Archivmaterialien auch neue Einsichten in Gogols Lebensweg möglich werden.

In seinen letzten Lebensjahren wendet sich Gogol mehr und mehr der religiösen Thematik zu.
»[...] a number of culture have connected male homosexuality with prophetic and mystical abilities.« [27] 
Gogol gehört zweifellos dazu. Seine Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden (Vybrannyje mesta is perepiski s drusjami) sind ein Aufschrei seiner Seele, der Versuch, sich von einer Schuld, die er nicht nennt, zu befreien. Wir hören immer nur von Sühne seiner Sünden. Gleichzeitig sieht er sich als einen Propheten, der das Recht habe, andere zu belehren und ihn wichtig erscheinende Einsichten zu verkünden.
Der Liebesverzicht endet mit körperlicher und seelischer Erstarrung, und Gogol verliert seine Schöpferkraft. Er hatte das Göttliche, das in ihm war, für etwas Teuflisches gehalten. Teufelsgestalten spielen in vielen seiner Werke eine zentrale Rolle. Der Teufel sollte ausgetrieben und besiegt werden. Statt dessen besiegte er einen Gott, einen Gott der wenigen, der darum um nichts weniger heilig und rein ist.
Zurück blieb der Nachruhm für seine satirischen Werke und eine Einschätzung seiner Person als ein Dämonen. Der unerkannte Gott schleuderte seinen Schützling schließlich ins Nichts.

In der Gogolforschung hat sich die These von Gogols Homosexualität trotz Karlinskys brillanter Untersuchung bis heute noch nicht durchgesetzt. Gleich nach seinem Erscheinen rief Karlinskys Buch allerdings lebhafte Reaktionen hervor. Die sowjetische Forschung erkannte darin nur die Absicht, die russische Klassik zu diskreditieren. [28] Diese Kritik war vor allem ideologisch ausgerichtet. In Westeuropa und Amerika fand eine rege Diskussion um Sachfragen statt. John Fennell, der Karlinskys Buch vor allem wegen der angenommenen Homosexualität Gogols nicht ganz überzeugend findet, zieht am Ende seiner Besprechung trotzdem das Fazit.
»[...] but whatever anyone may think of Karlinskys findings - even if they seem totally irrelevant in a study of Gogol. the artist - this is still a book, that should and will be read for many exciting insights it gives into Gogol.s art.« [29] 
Als einen Meilenstein für die Entschlüsselung russischer Literatur bezeichnet Margret Dalton (1977) [30] Karlinskys Untersuchung. Helen Muchnic spricht in ihrer Abhandlung Was Gogol gay? [31] über ihre Vorbehalte, aber auch über die Fakten, die sie in Karlinskys Buch überzeugt haben.
Ich denke, daß sich Karlinskys Konzeption nicht wegen fehlender Überzeugungskraft nicht durchgesetzt hat, sondern aufgrund des Umstandes, daß man Homosexualität in der Slavistik immer noch als einen Makel betrachtet, den man eventuell noch einem modernen Schriftsteller zugestehen könnte, den man aber der schon zu einem idealisierten Kanon gewordenen klassischen russischen Literatur keineswegs zumuten möchte. Eine Gogolbiographie, die das Leben des russischen Schriftstellers als das eines Mannes betrachten würde, der auf der Suche nach einem anderen Mann, nach einem geliebten Freund, nicht zuletzt aus Angst vor sich selbst immer wieder scheiterte, wäre sicher eine Bereicherung für die gesamte Literaturlandschaft. [32]

Gogol wurde besonders hinsichtlich des teilweise verbrannten zweiten Teils der Toten Seelen immer wieder von der zeitgenössischen und späteren Kritik vorgeworfen, seine Gestalten hätten an Lebenskraft verloren. Man kann den Hauptgrund dafür wohl darin sehen, daß ihm die Grundlage jeder vollwertigen Existenz, die ihm entsprechende Liebe, nicht vergönnt war. Es blieb nur die Erinnerung an eine kurze glückliche und zugleich von unendlichem Schmerz geprägte Zeit, die er mit Iosif Wielgorski verbrachte:
[...] zu mir kehrte ein Stück Frische der Jugendzeit zurück, wenn die [...] Seele Freundschaft und Brüderlichkeit zwischen Gleichaltrigen sucht und eben eine jugendliche Freundschaft, geprägt von lieben beinahe kindlichen Kleinigkeiten und ununterbrochen erwiesenen Zeichen zärtlicher Liebe; wenn es süß ist, einander in die Augen zu schauen; man ist vollkommen zu Opfergaben bereit, die vielleicht völlig unnötig sind. Und all diese süßen, jungen, frischen Gefühle - oh! Bewohner einer unwiederbringlichen Welt, kehrten zu mir zurück. [...] Ist mir denn diese Erinnerung an meine Jugend nur deshalb zuteil geworden, damit ich schließlich einer noch stärkeren toten Erstarrung meiner Gefühle unterliegen solle, damit ich plötzlich um Jahrzehnte altere, damit ich mit größerer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit mein verflossenes Leben betrachten solle. [33]


Anmerkungen:
  1. Nikolai W. Gogol: Polnoje sobranije sotschinenij (Gesammelte Werke). tom III, Leningrad 1938 S. 324 - 325. - Der russische Originaltext wurde für vorliegenden Aufsatz von mir ins Deutsche übertragen [B. S.-D.].
  2. Iosif M. Wielgorski war der Sohn des im damaligen Rußland bekannten Komponisten Matwej J. Wielgorski.
  3. Nikolai W. Gogol: Polnoje sobranije sotschinenij (Gesammelte Werke). tom III, Leningrad 1938, S. 325.
  4. Aleksandra O. Smirnowa war die Frau eines Gouverneurs. Sie betätigte sich schriftstellerisch und war in russischen Künstlerkreisen als Gesprächspartnerin sehr geschätzt.
  5. Marija P. Balabina war eine ehemalige Schülerin Gogols, der in Petersburg eine Zeitlang an einer Mädchenschule unterrichtet hatte.
  6. Vgl. die Briefe Gogols aus jener Zeit an Marija P. Balabina, Michail P. Pogodin (Historiker, Schriftsteller, Journalist, Professor an der Moskauer Universität), Stepan P. Schewyrjow (Literaturkritiker, Schriftsteller, Professor an der Moskauer Universität, gab zusammen mit Pogodin den Moskwitjanin heraus).
  7. Vgl. Igor P. Solotusski: Gogol. Moskwa 1979.
    Der Autor verteidigt am konsequentesten die These, daß Gogol der Schwester Iosif Wielgorskis, Anna Michailowna, einen Heiratsantrag gemacht hätte. Deshalb und nicht durch seine Beziehung zum Bruder sei es zum Bruch mit der Familie gekommen.
  8. Iwan D. Jermakov: Otscherki po analisu twortschestwa N. W. Gogolja (Skizzen zur Analyse des Gogolschen Schaffens). Moskwa - Peterburg 1923.
  9. Maximilian Braun: N. V. Gogol. Eine literarische Biographie. München 1973, S. 32.
  10. Vgl. David Magarshak: Gogol. A Life. Faber & Faber 1957.
  11. Henri Troyat: Gogol. The Biography of a Divided Soul (transl. from the French by Nancy Amphoux). London 1974, S. 131. (Übersetzung: Die Nase, die plötzlich eine selbständige Existenz erhielt, kann eine sexuelle Bedeutung haben, die dem Autor entgangen ist. Ein impotenter Gogol stellte einen Teil von sich selbst dar.)
  12. Hugh Mc Lean: Gogol.s retreat from love: Toward an interpretation of Mirgorod. In: American contributions to the Fourth International Congress of Slavicists, Mouton & Co, .S-Gravenhage 1958, S. 1 - 20.
  13. Daniel Rancour-Laferriere: Out from under Gogol.s Overcoat: A Psychoanalytic Study. Ann Arbor 1982.
  14. Frederik C. Driessen: Gogol as a short-story writer. (A study of his technique of composition). Paris, The Hague, London 1965.
  15. Alexander P. Obolensky: Food-Notes on Gogol. Winnipeg, Canada 1972.
  16. James B. Woodward: Gogol.s Dead Souls. Princetown, New Jersey 1978.
  17. Im russischen Volk gar hält sich das Gerücht, daß Gogol nekrophil war. Darüber läßt sich in offiziellen Quellen natürlich nichts finden, aber ich konnte diese Vermutung mehrmals in Gesprächen mit russischen Freunden hören.
  18. Vgl. Simon Karlinsky: The sexual labyrinth of Nikolaj Gogol. Cambridge, Massachusetts and London 1976.
  19. Simon Karlinsky: The sexual labyrinth of Nikolaj Gogol. Cambridge Massachusetts and London 1976, S. VIII. (Übersetzung: Einer der besten westlichen Biographen Gogols, Vsevolod Setchkarev, wollte diese Problematik [Gogols Homosexualität, B. S.-D.] in der deutschen Originalfassung seines Buches (in Berlin 1953 veröffentlicht) untersuchen. Er beschloß, es nicht zu tun, als ein älterer Kollege ihm androhte, seine Karriere zu ruinieren, wenn er Gogols Homosexualität erwähnen würde.)
    Vgl. Wsewolod Setschkareff: N. V. Gogol. Leben und Schaffen. Berlin 1953.
  20. Ebenda, S. VII. (Übersetzung: [...] eine Untersuchung von Gogols homosexueller Orientierung im Kontext seiner Biographie und seiner Werke kann uns den fehlenden Schlüssel für das Rätsel seiner Persönlichkeit liefern.)
  21. Vgl. Gogol w wospominanijach sowreminnikow (Gogol in den Erinnerungen von Zeitgenossen). Moskwa 1952; Otto Kaus: Der Fall Gogol. München 1912; Thais S. Lindstrom: Gogol. New York 1974; Richard A. Peace: The enigma of Gogol. An Examination of the Writings of N. V. Gogol and their Place in the Russian literary Tradition. Cambridge, London, New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney 1981; Carl R. Proffer: The Simile and Gogol.s »Dead Souls«. Mouton, The Hague, Paris 1967.
  22. Simon Karlinsky: The sexual labyrinth of Nikolaj Gogol. Cambridge Massachusetts and London 1976, S. 15 - 16. (Übersetzung: [...] es gibt genug Gründe für jeden, der ernsthaft an Gogols Werk interessiert ist, festzustellen, daß Gogols erotische Vorstellungen vor allem homosexuell geprägt waren und daß die Angst vor seinen homosexuellen Neigungen und ihre Unterdrückung eines der Grundlegenden Themen seiner Werke, ein Hauptgrund seiner persönlichen Tragödie und ein Faktor war, der zu seinem Tod führte.)
  23. Aleksander Iwanow soll laut Karlinsky pädophil gewesen sein.
  24. Es bestand die Gefahr, daß Gogol und Wielgorski auf den Bildern zu identifizieren seien. Gerüchte, die in Moskau und Petersburg kursierten, hätten dadurch eine indirekte Bestätigung erhalten. Deshalb wollte Gogol nicht, daß sein Porträt in der russischen Gesellschaft bekannt wurde.
  25. Um die Rolle, die der geistliche Vater Matwej in den letzten Lebensjahren Gogols spielte, gibt es bisher in der Forschung keine einhellige Meinung. Man kann aber annehmen, daß Gogol ihm einen sehr tiefen Einblick in seine intimsten Geheimnisse gewährte.
  26. Eine Art Kriegslager, in dem sich die Kosaken auf die bevorstehenden Kämpfe vorbereiteten.
  27. Simon Karlinsky: The sexual labyrinth of Nikolaj Gogol. Cambridge Massachusetts and London 1976, S. 244. (Übersetzung: [...] einige Kulturen haben Homosexualität mit prophetischen und mystischen Fähigkeiten verbunden.)
  28. Vgl. u. a. Swetlana K. Gural: Gogol w sowremennom amerikanskom literaturovedenii (Gogol in der zeitgenössischen amerikanischen Literaturwissenschaft). Diss. [...] kand. filol. nauk, Tomsk 1985; dies.: Psichoanalititscheskoje naprawlenije isutschenija twortschestwa N. W. Gogolja (Die psychoanalytische Richtung der Gogolforschung). In: Problemy literaturnych schanrow, Tomsk 1983, S. 51 - 53; A. L. Grigorjew: Russkaja literatura w sarubeschnom literaturowedenii (Russische Literatur in der internationalen Literaturforschung). Leningrad 1977.
    Ein Kollege des Petersburger Instituts für russische Literatur erwähnte bei einem Gespräch mit mir Karlinskys Buch. Allerdings bemerkte er, daß er es nicht wage, mir dessen These zu benennen, da sie so schrecklich sei. Er sah hier nur den Versuch, Gogol in den Schmutz zu ziehen, was eben mit der in dieser Hinsicht sehr starren öffentlichen Meinung in Rußland zusammenhängt. Das Gespräch führte ich 1989, bis jetzt ist in den renommierten literaturwissenschaftlichen Kreisen das Thema »Russische Klassik und Homosexualität« ein heißes Eisen geblieben.
  29. John Fennell: Rez. zu: S. Karlinsky, The sexual labyrinth of Nikolaj Gogol. Cambridge 1976. In: The Russian Review 36 (1976) 4, S. 527. (Übersetzung: [...] aber was immer man von Karlinskys Ideen halten mag, selbst wenn sie völlig irrelevant in einem Buch über Gogol, den Künstler, erscheinen mögen, es ist und bleibt ein Buch, daß gelesen werden sollte und wegen der Fülle von anregenden Einblicken in Gogols Kunst gelesen werden wird.)
  30. Margret Dalton: Rez. zu: The sexual labyrinth of Nikolay Gogol by Simon Karlinsky. Cambridge 1976. In: The Slavic Review 36, 1977, 3, S. 531 - 532.
  31. Helen Muchnic: Was Gogol gay? In: New York Review of Books 24, 1977, 5, S. 10 - 14.
  32. Weitere Hinweise zur Gogolforschung siehe in: Birgit Seidel-Dreffke: Die Haupttendenzen der internationalen Gogolforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1992.
  33. Nikolai W. Gogol: Polnoje sobranije sotschinenij (Gesammelte Werke). tom III, Leningrad 1938, S. 326.