Homosexualität bei Wasili W. Rosanow
Homosexualität bei W. W. Rosanow. Ein tabuisiertes Kapitel russischer Kulturgeschichte.
In: Forum Homosexualität und Literatur 32 (1998), Siegen 1998, S. 21 - 32.
Philosophische Konstruktionen von Homosexualität bei Wasili W. Rosanow und ihre Tabuisierung Der Russe W. W. Rosanow (1856-1919) ist als Autor schwer in einen eindeutigen Kanon zu pressen. Die Fachwelt stellt sich nach wie vor die Frage: Soll man ihn als Schriftsteller bezeichnen, als Publizisten oder als Philosophen?
Seine Produktivität übertraf die anderer Vertreter der Kulturszene im Rußland der Jahrhundertwende um ein Vielfaches. Zwischen 1886 und 1918 verfaßte er etwa 25 Bücher, hinzu kommt eine große Anzahl von Zeitschriftenaufsätzen. Seine Interessen erstrecken sich dabei auf fast alle Gebiete geistiger Tätigkeit wie Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst. Zu seinen bekanntesten Werken zählen: „Die Legende vom Großinquisitor F. M. Dostojewskis", 1890 („Legenda o welikom inkwisitore F. M. Dostojewskogo); „Metaphysik des Christentums", 2 Bde. 1911 („Metafisika christianstwa"); „Solitaria", 1912 („Ujedinennoje"); „Verwehte Blätter" 1913, 1915 („Opavschie listja"); „Die Apokalypse unserer Zeit", 1918 („Apokalipsis naschego wremeni").
Man einigte sich schließlich darauf, ihn als Philosophen, speziell Religionsphilosophen zu sehen, der in beständiger, zum Teil distanzierter, zum Teil konformer Auseinandersetzung mit der orthodoxen Kirche seine Thesen entwickelte.
Ein Kompromiß, der dem Gesamtwerk Rosanows nur in Ansätzen gerecht wird.
Noch mehr Probleme als seine Einordnung in einen Autorenkanon bereitete seinen Rezipienten (Lesern, Wissenschaftlern, Biographen) der Umstand, daß er es wagte, im Jahr 1911 folgendes zu schreiben:
„Aber daraus wird ersichtlich, wie wichtig diese 'männlichen Frauen' und 'weiblichen Männer' für die Zivilisation sind, welch große Rolle in der Welt diese 'niemals sich verheiratenden' spielen, welche Menge Arbeit von ihnen auf dem Altar der Menschheit geopfert wurde. Und was ist 'Homosexualität' in der rechtlichen und polizeilichen Beurteilung? In der religiösen Wertung? Und letztendlich in den Augen der 'leidenschaftslosen Wissenschaft?!' Ein Fall für […] die Irrenanstalt!!! Und nur deshalb, weil die Übergangsformen zur Homosexualität unbeachtet geblieben sind, ja und die Erscheinung selbst wurde nicht von der psychologischen Seite aus betrachtet, nicht mit Talent und Ehrlichkeit ausgewertet, sondern einzig und allein ausschließlich unter dem Blickwinkel des actus sodomicus (alte, in Rußland übliche Bezeichnung für Homosexualität - B. S.-D. ) betrachtet, der in neun von zehn Fällen überhaupt nicht stattfindet, und in 'geistigen Gemeinschaften', wenn diese auch schon von körperlicher Liebe, zuweilen von körperlicher Verliebtheit begleitet werden (es existieren Miraden von Abstufungen auf diesem Gebiet), fehlt doch dieser actus selbst in neun von zehn Fällen […] Die ganze Angelegenheit wurde verurteilt auf Grund des tatsächlich unschönen coitus per anum: der ja entweder gar nicht ausgeübt wird, aber selbst wenn er vollzogen wird, ist er doch nur ein Äderchen, irgendein 'Nerv', nicht der wichtigste und nicht der Entscheidende in der kaum überschaubaren Vielfältigkeit der Homosexualität. Er ist ein Ausdruck der ungewöhnlichen Nähe, der Liebe und schließlich der (mondischen) Verliebtheit von Personen mit Genitalien, die bei beiden Verliebten gleich sind; er spiegelt das Bedürfnis wider, 'einander mit Strahlen zu durchdringen', sich gegenseitig die Seelen mit 'himmlischen Fühlern' abzutasten."
Diese Zeilen finden sich nicht etwa in einem publizistischen Aufsatz, sondern im zweiten Teil von Rosanows „Metaphysik des Christentums" (1911), welcher unter dem Titel „Menschen des Mondlichts" („Ljudi lunnogo sweta") veröffentlicht wurde. In Rußland ist 1990 ein Reprint dieses Werkes erschienen. Eine deutsche Übersetzung ist mir nicht bekannt. Rosanows ursprüngliches Anliegen bestand darin, eine historische, ethische und philosophische Begründung des Christentums zu geben. Doch führen ihn seine Fragestellungen bald an das Gebiet des Geschlechts heran, das er als Hauptstimuli jeglicher Entwicklung und Weltbewegung betrachtet.
Er stellt zuerst die These auf, daß die christliche Religion vor allem auf Abkehr vom körperlichen und Hinwendung zum geistigen Leben basiere. Er kritisiert dabei bestimmte übertriebene Formen mönchischer Askese mit ihrem völligen Verzicht auf Fleischeslust, der nach Rosanows Auffassung aus dem Widerwillen herrührt, sich mit dem Gegengeschlecht zu paaren. Diese Erscheinung bezeichnet er auch als „geistige Homosexualität".
Andererseits lobt er die dem christlichen Glauben dadurch immanente Spiritualität. Aber schließlich führt er auch das Prinzip der Askese selbst ad absurdum, da er auch der „geistigen Homosexualität" das Recht auf körperliche Erfüllung zugesteht. Fazit seiner Überlegungen ist schließlich die These, daß das Geschlechtliche an sich etwas Heiliges sei und nicht als zum Bereich des Natürlichen gehörend damit automatisch als dem Geistigen diametral entgegengesetzt bzw. untergeordnet eingestuft werden dürfe. Verschiedene Arten von Geschlechterbeziehungen (so eben auch Homosexualität) sind für ihn damit Verkörperungen unterschiedlicher Formen von Spiritualität, eine Möglichkeit im Körperlichen das Göttliche zu erfassen.
Diese Thesen sollen etwas später im Mittelpunkt meiner Betrachtungen stehen. Vorher aber einige Marginalien zu den Reaktionen auf Rosanows „Menschen des Mondlichts".
Nach Erscheinen riefen die Anhänger der orthodoxen Kirche: „Blasphemie!" „Skandal", schrie der Großteil der literarischen Öffentlichkeit. An dieser Einschätzung hat sich bis heute grundsätzlich in breitem Maße in Rußland nichts geändert.
Rosanow gehört nicht zu den beliebtesten Vertretern der russischen Kulturrenaissance der Jahrhundertwende, die nach einer jahrzehntelangen weitgehenden Tabuisierung in der Sowjetunion im heutigen Rußland zahllose Neuauflagen und reges wissenschaftliches Interesse erfahren. Das Interesse an ihm ist verglichen mit dem an anderen russischen Religionsphilosophen wie Wladimir S. Solowjow, Nikolaj A. Berdjaew und Pawel W. Florenski relativ gering, obwohl in den letzten vier Jahren auch hier Veränderungen eingetreten sind.
Seine „Menschen des Mondlichts" aber werden im großen und ganzen mit Schweigen übergangen. Hin und wieder allerdings beginnt man schon unter dem Mäntelchen der Toleranz, die Schamröte zu verbergen und in Überblicksdarstellungen wenigstens den Inhalt des Buches knapp zu benennen. Aber selbst bei jungen Vertretern der russischen Intelligenz klammert man gern Rosanows schließliche Bejahung der körperlichen Homosexualität aus und bezieht sich nur auf das Geistige. In der Frankfurter Studentenzeitung „Kulturologe" fand ich folgende Anwendung Rosanowscher Thesen aus „Menschen des Mondlichts" auf die Gegenwart: „Ein anderer ist auch als Mann geboren worden, doch schon als Kind mag er allein sein und meidet laute Kinderspiele. Er lernt früh lesen und ist gut in der Schule, nur im Sportunterricht hapert es bei ihm ein bißchen. Dafür wird er regelmäßig von seinen Schulkameraden ausgetrickst. Als Heranwachsender und auch später als reifer Mann bleibt er in Sachen Sex weit hinter seinen Altersgenossen.
Vielleicht heiratet er auch und wird ein treuer Ehemann und guter Familienvater sein. Höchstwahrscheinlich aber bleibt er sein ganzes Leben lang ledig. Wäre er noch ein paar Jahrhunderte früher geboren worden oder hätte er eine strenge religiöse Erziehung genossen, würde uns die Tatsache, ihn einmal in eine Mönchskutte gekleidet zu begegnen, nicht verwundern. Allerdings, da er am Ende des aufgeklärten zwanzigsten Jahrhunderts lebt, widmet er sich der Wissenschaft, Literatur, Musik oder wird zu einem ausgezeichneten Computerspezialisten bzw. Gentechniker. Im schlimmsten Fall wird er homosexuell, arbeitslos, Alkoholiker oder Junkie." Die Ausübung des homosexuellen Aktes wird immer noch eher als Perversion angesehen, als daß man bereit wäre, sie als normale Variante der Sexualität zu akzeptieren.
Doch läßt die Herausbildung homosexueller Interessengruppen in Moskau und Petersburg und auch in anderen Städten Rußlands, sowie eine neue schwule Texte generierende Dichtergeneration wie Jewgeni Charitonow, Dmitri Prigow, Nikolaj Kolljada, Ljudmilla Woronzowa, Olga Krause, Alexander Schatalow u. a. auf einen baldigen Paradigmenwechsel hoffen , der auch die zum Teil noch recht konservative Landschaft der Geisteswissenschaft zu erneuern hilft.
Doch auch in Westeuropa tut man sich mit der Analyse der „Menschen des Mondlichts" schwer. Meist wird das Werk im Kontext von Rosanows allgemeinen Vorstellungen über Geschlechterbeziehungen, speziell heterosexueller erwähnt, ohne es zu analysieren, wodurch es teilweise in einen anderen Zusammenhang gerät, der ihm nicht gerecht wird. Oder man verbirgt Rosanows „Liebeserklärung an die Homosexualität" hinter dem Schleier rationalistischer Theoriebildung bzw. die Problematik hinter rationalisierender Begrifflichkeit, die für den Forscher den notwendigen Abstand schafft, um sich überhaupt der Thematik zu nähern. So schreibt H. Stammler in seinem Buch über Rosanow folgendes:
„Vom Standpunkt der Kirche aus war er gewiß einer der skandalösesten Rebellen, aber wenn er rebellierte, so nicht im Namen der selbstgenügsamen autonomen Vernunft, sondern eines dionysischen Prinzips, der phallischen Götter von Zeugung, Geburt und Fekundität gegen die spiritualisierte, ethisierte Gottheit des Christentums."
Man scheut sich in der slavistischen Fachliteratur immer noch vor der Benennung der auch für viele im Alltag oft noch so schwer auszusprechenden Begriffe wie Homosexualität, Schwule, Lesben, Transsexuelle etc.
Eine in gewissem Sinne kapitulierende Hilflosigkeit vor den Widersprüchen in Rosanows Oeuvre drückt sich auch in folgender Feststellung aus:
„Solch einen Schriftsteller wie Wasili Rosanow konnte es nur in Rußland geben."
Doch wenn schon die historische Persönlichkeiten und Ereignisse schließlich oft relativierende Gegenwart sich immer noch schwer mit diesem Buch tut, stellt sich natürlich die Frage nach dem zeitlichen Rahmen, in dem es entstehen konnte. Darauf möchte ich noch eine kurze Antwort geben, weil dies, wie ich glaube, die Widersprüche in Rosanows Werk und die widersprüchlichen Reaktionen darauf zu deuten hilft.
Die Periode, in der Rosanows „Menschen des Mondlichts" entstanden, bezeichnet man auch als „Silbernes Zeitalter der russischen Literatur und Kultur" (ca. 1890-1918) bzw. als russische Kulturrenaissance. Das hängt damit zusammen, daß die vorrevolutionäre, die Gesellschaft durch eruptive Umwälzungen (Revolution von 1905, 1. Weltkrieg) erschütternde Periode, auch auf geistigem Gebiet von Veränderungen eines bis dahin in Rußland nie gekannten Ausmaßes gekennzeichnet war. Die Suche nach neuen Visionen wurde damals zu einem konstituierenden Lebensbestandteil vieler Intellektueller.
Es entstanden Gruppen, die sich der Verbesserung der sozialen Lage im Lande widmeten und die genug Raum boten, soziale Fragen zu diskutieren, ohne diese schon auf ein eindeutig marxistisches Schema reduzieren zu müssen.
Bestimmte Vertreter der Intelligencija bemühten sich, traditionelle am philosophischen Idealismus bzw. an Glaubenssätzen der orthodoxen Kirche orientierte Denksysteme weiterzuentwikkeln (z. B.: Pawel W. Florenskij, Nikolaj F. Fedorow, Nikolaj A. Berdjaew). Andere wandten sich völlig von den von der Kirche als Institution vertretenen Anschauungen ab und versuchten, eine neue Beziehung zum Christentum zu finden („Gottsuchertum", „Gottbauertum"). Es existierte aber auch eine rigide Ablehnung jedweder religiöser Vorstellungen, die schließlich in einem radikalen Atheismus bzw. Materialismus gipfelte. Für bestimmte Kreise bot sich auch Hoffnung im Glauben an eine sich mit beispiellosem Tempo entwickelnde Naturwissenschaft, die ihrerseits die Evolution verschiedener Denksysteme forcierte. Eine bestimmte Gruppe der Intelligencija wandte sich sogar unter dem Oberbegriff „Okkultismus" zusammenzufassenden Strömungen (z. B.: Spiritismus, Theosophie oder Anthroposophie) zu.
Diese Grenzen und Werte in jeder Hinsicht in Frage stellende Periode mußte natürlich auch Umbrüche in Fragen des Verständnisses vom Geschlecht hervorbringen.
Es bildeten sich Ansätze einer schwul-slesbischen literarischen Szene heraus. Dazu gehörten Autoren, die sich offiziell in ihrem Schaffen zur homosexuellen Liebe bekannten (z. B.: Michail A. Kusmin, Lidija Sinowjewa-Annibal). Es existierten Anfänge einer „homosexuellen Salonkultur", zum Beispiel die sogenannten Hafiz-Abende im „Turm" Wjatscheslaws Iwanows, an denen sich zum Beispiel der Dichter Sergej Gorodezki, der Maler Konstantin Somow und der deutsche Rußland-Kenner und Übersetzer Johannes von Günther beteiligten.
Doch bei all den genannten Gruppen muß man davon ausgehen, daß sich Toleranz und Verständnis meist auf das bestimmte in ihrem Verständnis zu revolutionierende Gebiet bezogen. Es gab kaum gruppenübergreifende Konzepte, so daß ein allgemeiner gesellschaftlicher Konsens, zum Beispiel in Geschlechterfragen, auch nicht zu erwarten war. Hinzu kommt die organisatorische Instabilität vieler Gruppen, die häufig zerfielen. Neue religiöse aber auch soziale und philosophische Ideen wurden meist mit einer traditionellen Sexualmoral verbunden. So äußerte sich A. Belyj, Rußlands berühmtester symbolistischer Autor, der sich von traditionellen Denk- und Religionssystemen gelöst hatte und im Jahre 1913 Anthroposoph wurde, entsetzt über einen Berlin-Besuch.
Dabei nennt er Homosexualität zusammen mit allen anderen „Widerwärtigkeiten", die er in der deutschen Hauptstadt in den zwanziger Jahren antrifft:
„ […] die elegant gekleidete Dame mit dem bescheiden gesenkten Gesicht ist auf dem Weg ins […] Freudenhaus: sich dem Wahnsinn perversester Widerwärtigkeiten hinzugeben; der schmachtend blickende Jüngling, der die Aufmerksamkeit auf sich zog, 'foxtrottet' ins […] Café der Homosexuellen; in Berlin sind unverblümt einige hundert Cafés für Homosexuelle in Betrieb. Und das unschuldige Mädchen mit der roten Schleife - Horror: ein alter Mann nähert sich ihr, […] und sie geht mit ihm fort - wohin? Organisierter Wahnsinn, Unsinn, Phantastik und Widerwärtigkeit - in all das beginnt Berlin, wenn man angespannt schaut, langsam zu zerfallen; alles - ist verkehrt herum und alles ist verrückt."
Vereinzelt existierten Versuche, voneinander entfernte Bereiche, wie zum Beispiel Religion und Sexualität miteinander zu verbinden. Jedoch argumentierte man in diesen Fällen selten offen mit Begriffen wie Geschlecht, Sexualität oder Homosexualität, sondern verbarg sich hinter Bezeichnungen wie Geist-Fleisch-Dualismus, den man überwinden müsse, um den neuen androgynen Menschen zu schaffen.
Rosanow nun aber sprengt diese Gruppengrenzen. In seinen „Menschen des Mondlichts" will er Homosexualität, Christentum, Philosophie und wahrscheinlich ein aus der Theosophie Elena P. Blavatskajas entlehntes Heidentum zu einem Konzept verbinden, womit er sich zwischen alle Stühle setzte.
Obwohl sich Rosanow teilweise auf zu seiner Zeit moderne Sexualtheorien stützt (z. B.: Kraft-Ebbing) geht es ihm nicht um eine medizinische, sondern eine philosophische Begründung des Phänomens Homosexualität. Es interessiert ihn, den Homosexuellen als Typ zu erfassen, der keineswegs in den Bereich der „Perversionen" eingeordnet werden darf, sondern, der das in jeder historischen Epoche vorhandene „Andere" repräsentiert.
Dabei sieht er dieses „Andere" nicht als Gegensatz zum „Normalen", das vernichtet werden müsse. In dem sich aus dieser Opposition entwickelnden Spannungsfeld sieht er einen wichtigen Stimuli der gesamten Kulturentwicklung. Rosanows Thesen sind gekennzeichnet von dem für die russische Philosophie jener Zeit charakteristischen Streben nach dem Absoluten. Dabei wird jede Teilerscheinung immer als eine dem Weltganzen innewohnende Potenz gesehen, die die Entwicklung des gesamten Weltorganismus beeinflussen kann. Er steht damit in der Tradition der russischen, vom Philosophen Wladimir S. Solowjow zum Höhepunkt gebrachten All-Einheitslehre, die das Weltganze als Organismus betrachtet, dessen Teile in einer ständigen Wechselbeziehung zueinander stehen, wobei sich jede Veränderung des Teils sofort auf das Ganze auswirkt.
Für ihn kann Homosexualität damit nicht, wie auch heute noch vereinzelt von Laien und Wissenschaftlern behauptet, Erscheinung einer bestimmten Stufe historischer Entwicklung sein.
Homosexualität gerät damit automatisch zu einer dem Weltganzen von Anfang an innewohnenden Potenz, die sich lediglich in verschiedenen Kulturepochen unterschiedlich artikuliert. Rosanow schreibt:
„ […] und wir können annehmen, daß in diesem Weltkessel, in dem das Wirrwarr der Weltnotwendigkeit und des Weltbestandes zusammengerührt wurde, bereits bestimmte Elemente dieses Widerstandes, dieser Gegennatürlichkeit vorhanden waren; schon dort in diesem ur- oder besser vorweltlichen Kessel brodelten Strömungen und Gegenströmungen, lief die dampfende Materie hierhin und dorthin, gleich einer Schraube, ringförmig, bei weitem nicht nur in eine vorgegebene Richtung […]"
Sich dem vorgegebenen Naturgesetz zu widersetzen ist für Rosanow schon Indiz für die Geburt von etwas Geistigem, einer bestimmten Form von Spiritualität.
„Das Individuum begann, als plötzlich zum Naturgesetz gesagt wurde: 'Halt! Ich lasse dich hier nicht hinein!' Derjenige, der es nicht hineinließ, war der erste 'Geist', die erste Nicht - 'Natur', Anti - 'Mechanik'. Die 'Persönlichkeit' trat also in der Welt in dem Moment zutage, als das 'Gesetz zum erstenmal zerstört wurde'. Das meint Zerstörung von Gleichförmigkeit und Unveränderlichkeit, von Norm und 'Gewohntem', von 'ursprünglich' und 'allgemein Erwartetem.'"
Um seinen Thesen auch äußerlich den Anspruch von Historizität zu verleihen, führt er die allgemein als Ursymbole anerkannten Zeichen: Sonne und Mond ein, auf deren Opposition als Hintergrund gestützt, er sein Gedankengebäude weiterentwickelt. Die Besonderheit der „Mondmenschen" besteht nach Rosanows Meinung darin, daß ihnen alles, „was die Sonne gebiert" - Trennung, Unterscheidung, Rationalität, Vielfalt, Farben, Vermehrung - nicht entspricht. Die quasi aus der göttlichen Einheit in die materielle Dualität gestürzte Welt ist diesen Menschen fremd. Mond steht hier für Transzendenz, mystische Erleuchtung, Intuition, Kontemplation, Hinwendung zur anderen göttlichen Welt. Die die Sinne ablenkende Vielfalt wird ersetzt durch Konzentration auf das höhere Ziel.
Die Verwendung der Mondsymbolik könnte bei Rosanow auch durch eventuell vermittelte oder direkte Rezeption theosophischer Thesen E. P. Blavatskajas hervorgerufen worden sein. Nach ihrer Lehre, die im Rußland der Jahrhundertwende, vor allem in Symbolistenkreisen eine breite Rezeption erfuhr, waren die Vorfahren der Erdenmenschen, die sogenannten „Mond-Pitris" (Theosophischer Terminus - B. S.-D.), die sich durch besondere Eigenschaften wie zum Beispiel eine ausgeprägte Intuition auszeichnen.
Daraus könnten auch Rosanows Thesen herrühren, daß im Blut der Homosexuellen angeblich die Erinnerung an eine sehr ferne Vergangenheit lebendig geblieben sei. Deshalb seien viele der ihm bekannten Homosexuellen eher als konservativ zu bezeichnen:
„Fast immer handelt es sich um konservative Personen ('das Devon'), sie mögen das Neue nicht, besser gesagt, das Neumodische, das 'Moderne'. Es zieht sie immer zurück in die Tiefe der Jahrhunderte. Aus ihnen spricht das alte Lied, es ruft sie zu sich, ihr 'Paradies' ist metaphysischer Art; es lebt in ihren Knochen, ihrem Blut, in ihren Geschmacksempfindungen. Handelt es sich um einen Komponisten, wird seine Musik eine besondere sein, handelt es sich um einen Maler, wird sein Bild ein besonderes sein; daß ihre Philosophie eine besondere ist, davon zeugen Sokrates und Platon."
Historisch zu argumentieren, bedeutet für Rosanow auch, den Homosexuellen in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen unterschiedliche Plätze zuzuweisen. Legenden um uralte Mysterien stehen dabei im Mittelpunkt seines Interesses. Besonders die zu Ehren der heidnischen Götter Moloch und Astarte veranstalteten Einweihungsriten faszinieren ihn. Rosanow konstatiert, daß es den Männern nur in Frauenkleidern gestattet war, vor die weibliche Gottheit hinzutreten, da diese eine Abneigung Männern gegenüber gehegt haben soll. Frauen wiederum durften vor dem männlichen Gott nur in männlicher Bekleidung erscheinen. Aus den diesen Göttern besonders ergebenen Personen, hätte sich dann der Priesterstand entwickelt. Auch im Christentum sieht Rosanow den Priesterstand schließlich durch Menschen vertreten, die eine natürliche Abneigung der Paarung mit dem Gegengeschlecht gegenüber auszeichnet.
Bis zu diesem Punkt seiner Argumentationslinie ist Homosexualität für Rosanow vor allem geistige Homosexualität, die sich lieber mit Gott-Vater bzw. seinem Sohn, also mit dem als männlich identifizierten Geistigen paart und nicht mit dem Weiblichen, das von ihm als Ausdruck der Körperlichkeit verstanden wird. In gewissem Maße entwickelt er hier Überlegungen zum Typ des sogenannten 'Androgynen', der weibliches und männliches gleichermaßen in sich trägt und deshalb nicht auf eine praktische Umsetzung seines Geschlechtstriebes angewiesen ist, da die Befruchtung ständig in ihm und dabei geistig vor sich geht.
Doch schon bald wird ihm klar, daß die These vom sich nicht dem Geschlechtsakt widmenten Androgynen, seinen eigenen, in bisherigen Publikationen vertretenen Überzeugungen zuwiderläuft. Denn das Besondere seines Denkens besteht ja darin, daß er letztendlich immer bestrebt war, den Dualismus von Geistigem und Natürlichem zu überwinden und zu einem organischem Ganzen zu verbinden. Es existieren Aussagen von ihm, wo er jung verheirateten Paaren empfiehlt, sich direkt auf dem Altar in der Kirche zu paaren. Eine Biograph Rosanows, A. Pyman, schrieb sogar:
„He always wrote with his hand on his penis."
So mußte ihn die logische Konsequenz seines eigenen Denkansatzes schließlich dazu führen, auch die körperlichen Aspekte der Homosexualität anzuerkennen. Dies drückt er folgendermaßen aus:
„Es ist nicht wahr, daß 'man sich paaren will', weil ein Geschlechtsorgan vorhanden ist: sondern 'der Wunsch, sich zu paaren', ist schon vorher da, unabhängig davon und erst daraus ergibt sich dann die Frage, 'existiert denn ein Organ für das Gewünschte?' Die Homosexualität ist solch ein Fall, wo 'kein Organ für das Gewünschte' vorhanden ist. Aber wie der 'Wunsch' vor dem Organ da ist, ihm metaphysisch vorausgeht, bleibt dieser Wunsch natürlich auch erhalten, brennt er im Menschen, unabhängig davon, welche Geschlechtsorgane dieser besitzt. 'Es gibt kein Organ' - aber das Feuer brennt: das ist das Wesen der Homosexualität. 'Der Durst quält', aber weder Mund noch Kehle sind vorhanden: es ist doch denkbar, daß 'das Verlangen' nicht durch Mund oder Kehle hervorgerufen wird, sondern aus dem Blut kommt von dem dort enthaltenen Verhältnis fester und flüssiger Bestandteile. Das letzte Beispiel sollte besonders den Medizinern verständlich sein: 'Ja, was soll man machen - da wird man sich halt den Bouillon per anum zuführen müssen.' Das eben ist Homosexualität: das Bedürfnis des jeweiligen Organismus, seines 'Blutes', seiner 'Seele' nach männlichem Samen, nach dem männlichen Organ, der männlichen Leidenschaft, nach der charakteristischen männlichen Hitze; aber das typische aufnehmende Organ hierfür, das typische jedoch nicht absolute, eine Scheide und Gebärmutter fehlen; und dann geht eben die 'Speisung mit männlichem Feuer' so oder anders vor sich, oder irgendwie noch anders."
Gerade die Anerkennung auch der körperlichen homosexuellen Liebe war es, die Rosanow auf besonders starke Ablehnung stoßen ließ. Wurden die im Rußland der Jahrhundertwende entwickelten „Philosophien der Liebe" , angefangen von den russischen Religionsphilosophen bis hin zu den Symbolisten mit ihrem „Kult der schönen Dame" gepriesen, blieb Rosanows „Philosophie der homosexuellen Liebe" ein Exotikum, das man besser nur mit einem Nebensatz überging.
Sicher handelt es sich bei Rosanows Thesen um Konstruktionen, die spekulativ sind und die sich selbst kaum auf eine philosophische Tradition berufen können. Aber wie sollten sie auch?
Ich halte Rosanows Versuch, den vor allem im Rußland sehr ausgeprägten Bereich der Entwicklung einer „Philosophie der Liebe" auch mit der homosexuellen Liebe zu bereichern für sehr wichtig. Ich denke, es ist notwendig, sich nicht nur daran zu erinnern, sondern seine Ideen auch zu einem Gegenstand weiterführender Forschungen zu machen.
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