08.11.2011

Menschen des Mondlichts

Menschen des Mondlichts



V. V. Rozanov: Menschen des Mondlichts. Reprint der Ausgabe von 1911.
B. Seidel-Dreffke: Übersetzung von Auszügen aus dem Russischen.

In: Endlich ICH. Transsexuelle Erlebniswelten, Selbstverlag 2000, ISBN 3-00-007084-2, S. 30 - 35.


Vorbemerkung des Übersetzers

W. W. Rosanow gehört zu den originellsten, bis zur Perestrojka in Rußland aber weitgehend tabuisierten Autoren des "Silbernen Zeitalters" der russischen Kultur (ca. 1890-1917).

Ein Grundanliegen Rosanowscher Philosophie war seine ständige Auseinandersetzung mit der Geschlechterfrage. Sein Buch "Menschen des Mondlichts" stellt einen Höhepunkt seiner tiefgründigen Reflexion über von der Norm abweichendes Sexualverhalten wie Homosexualität und Transsexualität dar. (Transsexuelle belegt er allerdings in seinem Buch mit der für die damalige Zeit auch in Rußland üblichen Bezeichnung - Urning.) In der russischen Geistesgeschichte jener Zeit sucht es an Tiefe und Toleranz seinesgleichen.

Bei folgendem Auszug handelt es sich um Ausschnitte der Lebensbeschreibung der russischen Philosophin M. W. Besobrasowa, die Rosanow in sein Buch übernahm. Sie verdeutlicht das Erleben einer transsexuellen Prägung vor mehr als 100 Jahren.

(Die Seitenangaben der oben genannten Ausgabe erfolgen in der folgenden Übersetzung jeweils in Klammern)


Biographische Notizen des Doktors der Philosophie, Maria Wladimirowna Besobrasowa, Tochter des Autors und Redakteurs der "Zeitschrift für Staatswissenschaften"

"Es gibt seltsame Menschen, zu denen ich zweifellos gehöre, und deshalb kann ich über mich nicht so erzählen, wie das andere machen; auch weiß ich nicht, lohnt es sich denn über mich zu berichten, kann es denn interessant sein, was ich zu sagen habe?" (S. 227)

"Es kann sein, daß es noch mehr Verwunderung hervorruft, wenn ich feststelle, daß ich eigentlich keine Frau bin. Vielleicht ist in mir ein Nachfahre irgendeiner Zeitgenossin des Matriarchats wiedergeboren worden? Oder in mich ist irgendwas nicht eingegangen, das im Laufe der Jahrhunderte den Typ Frau begründete, den wir alle kennen - als ein Resultat ihrer Unterdrückung? Meiner Natur sind alle rein weiblichen Elemente einer Frau fremd, ist ihre Versklavung fremd.

Von frühester Kindheit an habe ich gespürt, daß ich eigentlich kein Mädchen bin.

Hat sich vielleicht Luisa Christianowna (die Hebamme meiner Mutter) geirrt, als sie mich entband? Das war eine Frage, die ich mir nicht nur einmal gestellt habe. Aber nein, sie hat sich wohl nicht geirrt.

Ich bin nicht nur als biologisches Mädchen geboren worden, sondern wurde auch noch ein hübsches Mädchen und alle Zeichen der Aufmerksamkeit, die mir zuteil wurden, hätten mich eigentlich an der Möglichkeit eines physiologischen Spiels der Natur zweifeln lassen sollen.

Das eigentliche Drama spielte sich im seelischen Bereich ab. All meine psychischen Anlagen und Fähigkeiten gingen nicht mit dem konform, was die Natur üblicherweise Frauen mitgibt, mein ganzer Geschmack war dem seit Urzeiten für Mädchen üblichen entgegengesetzt." (S. 228)

"Ich habe nicht nur nie mit Puppen gespielt, sondern ich haßte schon allein den Anlaß, aus welchem man sie schenkt - das Weihnachtsfest. Zum Weihnachtsfest kamen all die älteren Verwandten, auf die meine jungen Eltern keinen Einfluß hatten und deshalb nicht sagen konnten: ‚Schenkt das lieber nicht!'. Diese Verwandten deckten mich wie einen Säugling mit riesigen Puppen und deren Bettchen, Schränkchen und anderem albernen Zeug ein, und ich war nicht nur deshalb unglücklich, weil ich das alles gar nicht gebrauchen konnte, sondern noch aus einem anderen Grund. Ich mußte Dankbarkeit zeigen, sogar Freude. Als ein nicht dummes Mädchen wußte ich aber, daß dies nötig war, und dabei war doch Lügen das Allerschlimmste für mich. Deshalb habe ich mich ehrlich gefreut, als dieser furchtbare Abend vorbei war, als die Verwandten wegfuhren, die natürlich mit aller Ehrerbietung verabschiedet wurden, und ich konnte die riesigen Puppen, die ‚Mama' kreischten, weglegen bzw. vergessen. Es gab kein größeres Fest für mich, als mit den Brüdern den Weihnachtsbaumschmuck abzunehmen und mit deren Spielzeug zu spielen. Bis heute erinnere ich mich an ein Geschenk meines Vaters, das er mir schon lange vor Weihnachten gegeben hatte, weil er es genau wie ich vor Vorfreude kaum erwarten konnte. Wie heute sehe ich diesen großen Pferdeschlitten vor mir, der so groß war, daß sich meine beiden Brüder bequem hineinsetzen konnten und der über einen Kutschbock für mich verfügte; vor diesen Schlitten waren zwei Spielzeugpferde mit silbernen Geschirr gespannt. Dieses Pferdegeschirr ließ sich abnehmen und wieder anlegen und meine Freude kannte keine Grenzen. Der gute Vater wußte, was er schenken mußte." (S. 229)

"Im Sommer erwachte die Phantasie meiner Mutter. Mit Ungeduld erwartete ich meinen Namenstag, da ich wußte, daß sie eine Überraschung für mich vorbereitet hatte. Aber das, was sie mir dann schenkte, übertraf meine Erwartungen stets bei weitem. Auf ein hölzernes Beil folgte ein kleiner Hakenpflug mit eiserner Pflugschar, ein Pflug, vor den ich meine Brüder spannte, und zuletzt erhielt ich eine Sense zusammen mit einem Schleifstein und einen Hammer mit Amboß.

Als ich mit der echten kleinen Sense unseren sogenannten sauberen Hof umpflügte, hatte ich den Schleifstein am Gürtel befestigt, den ich um mein rotes Kattunhemd mit dem roten Kragen geschlungen hatte, und unter dem Hemd sahen die hohen Schäfte der Stiefel hervor (trad. Kleidung russischer männlicher Bauern - A. d. Ü.). Im Sommer gab die Mutter meiner Schwäche nach und erlaubte mir, in diesem Hemd herumzulaufen. Dafür blieb mir im Winter nur der Neid übrig. Diese glücklichen Jungen hatten so wunderbare blaue Kaftane (altertümlicher langschößiger Rock - A. d. Ü.) mit goldenen Knöpfen, die mit grauen Lammfell besetzt waren, und zur Vollendung meines Neids hatten die Jungen auch noch rote Gürtel und Mützen und ich ... mußte weiter im weiten Damenmantel mit einer Frauenhaube herumlaufen.

Meine Spaziergänge in die Stadt wurden durch diese weiblichen Attribute vergiftet. Ich fühlte mich darin nicht wohl, und sie erschienen mir nicht schön." (S. 230)

"Im Hemd war es so bequem, in die Kutsche zu springen, sie zu lenken oder auf einen Baum zu klettern.

Ich fuhr, freilich im Kleid, auf dem Bock unseres großen Reisewagens, da es schwierig war, mich dazu zu überreden, im Wagen Platz zu nehmen, und es machte mir den größten Spaß, die Pferde zu lenken - bis ich schließlich zu reiten begann, da erschien mir auch das kutschieren langweilig.

Wenn ich schon die Brüder beneidete, habe ich den Kutscher doch noch mehr beneidet, bei dem alles richtig echt war. Sein Hut mit den Pfauenfedern und sein mit Metallstückchen geschmückter Gürtel war weitaus besser als das, was die Jungen trugen. Und obwohl ich keinen Hut mit Pfauenfedern hatte und auch keinen Gürtel, besaß ich doch seit dem 13. Lebensjahr ein eigenes Pferd. Der Vater, der nicht wußte, was er mir schenken sollte, schenkte mir Geld, und dafür kaufte ich mir ein Pferd." (S. 231)

"Meine Jungenhaftigkeit gefiel der Alten (gemeint ist die Großmutter - A. d. Ü.) nicht. Sie versuchte, mir manchmal Strafpredigten zu halten, wenn auch meistens in sehr weicher Form: ‚Warum erlaubt die Mutter dir soetwas? Kann man sich denn als Mädchen so benehmen?'

Und ich regte mich auf, obwohl die Oma so gut und schwach war, daß man sich eigentlich über sie nicht ärgern durfte.

Im übrigen hat sie sich auch selbst vor mir gefürchtet, aber die Art, wie ich schließlich meine Zeit verbrachte, versöhnte sie schließlich mit meinem Benehmen.

Und gerade im Sommer verwandte ich die meiste Zeit darauf, meinen kleinen Garten zu bearbeiten." (S. 232)

"Meine Kindheit im Dorf war eng mit den Nachbarskindern verbunden, vor allem mit zwei Mädchen, die mit mir in einem Alter waren. Wir verbrachten zwei Tage in der Woche zusammen und verbrachten sie stets in der Banja (russisches Badehaus - A. d. Ü.). Die Banja stellte für uns eine Hütte dar, und wir waren die Bauern (Bauern männlichen Geschlechts - A. d. Ü.). Die Bauern führten die in der Saison notwendigen Arbeiten durch. Die Rollen waren dabei ein für allemal aufgeteilt: die energischste von uns war der Hausherr, ihre Schwester - die Hausherrin und ich der Arbeiter. Wir widmeten uns voll unserem bäuerlichen Leben. Wenn ich mich heute an dieses Spiel erinnere, habe ich immer das Gefühl, als hätten wir unser Schicksal vorausgeahnt. Der Hausherr wurde wirklich zum ‚Hausherren', sie leitet vorbildlich einen Grundbesitz, eben jenen, auf welchem wir in der Banja spielten, die Hausherrin kommt auch gut mit ihrer städtischen Hauswirtschaft zurecht und ich ... ich blieb das, was ich in der Banja war, Arbeiter.

Schön war es auf dem Dorf, und als der Herbst hereinbrach, wollte ich nicht in die Stadt zurück. Es war nicht deshalb, weil ich nicht gern gelernt hätte, aber die ganze Art des Stadtlebens, das sich hinter Wänden abspielte und die mädchenhafte Kleidung waren mir zuwider." (S. 233)

"Noch weniger paßte ich in das Pensionat, wohin ich seit dem 10. Lebensjahr ging. Das war ein sehr anständiges deutsches Pensionat, wo schon die dritte Generation von Mädchen erzogen wurde, sehr ruhige und beherrschte Mädchen, die sich darauf vorbereiteten, gute ‚Hausfrauen' und ‚Mütter' (deutsche Bezeichnung so auch im russ. Text - A. d. Ü.) zu werden, die all das fleißig paukten, was zu pauken aufgegeben wurde. Und unter die geriet plötzlich ich - ein russischer Wildfang, ein guter Kamerad meiner Brüder, für die ich oft viel zu wild war, die ich oft drillte und kritisierte, daß sie weder an Pferden, noch an schlechten Kutschern Gefallen finden konnten.

Was aber sollte ich in diesem Pensionat machen! Meine Verwegenheit konnte sich nicht recht Raum verschaffen und während der ganzen Zeit des Bestehens des Pensionats, seit dem Moment an, von dem ab das dicke schwarze Buch, genannt ‚Klassenbuch' geführt wurde, bekam niemand solche Noten für das Betragen wie ich. Ich blieb allein und einzigartig in dieser Hinsicht. Ich wurde so viel und oft gerügt, daß ich seit langem damit aufgehört hatte, darauf zu hören und mich überhaupt dafür zu interessieren, was man zu mir sagte. Ich erinnere mich daran, daß man mir prophezeite, ich würde in die Hölle kommen, aber ich fürchtete mich auch nicht vor der Hölle. Als ich in den unteren Klassen war, dachte sich meine Klassenleiterin - eine Deutsche - sogar besondere Strafen für mich aus, die es bis dahin im Pensionat nicht gab und die es wahrscheinlich auch nach mir nie wieder gegeben hat. Sie schickte mich zum Frühstück in einen einzelnen Raum und ich war stolz darauf." (S. 234)

"Der Gedanke an den Tod ließ mir keine Ruhe. Als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich furchtbare Träume gehabt: ich lag im Grab und erwachte dann. Dies war einer meiner gewöhnlichen Träume, der sich in allen Einzelheiten entwickelte und wie es oft in Träumen ist, die sich oft wiederholen, er hatte seine ganz bestimmte Atmosphäre, und ich verhielt mich zu diesem Traum wie zu etwas Eigenem, Vertrauten.

Als ich älter wurde, kam mir der Gedanke an den Tod auch im Wachen und nahm die Gestalt des Nirwana an. Zu beliebiger Tages- und Nachtzeit konnte ich mir vorstellen, daß ich nicht mehr existiere und daß Zeit und Raum auch verschwinden. Nichts Schlimmeres kann ich mir bis heute vorstellen. Wenn es weder Zeit noch Raum gibt, so gibt es überhaupt nichts mehr und der Zustand der grenzenlosen Leere (der noch schlimmer ist als einfach Leere, denn Leere an sich ist schließlich immer noch unser menschlicher Begriff) überkam mich plötzlich. Ich konnte dieser schwierigen Situation nur entfliehen, indem ich das eine Wort ‚Mama' aussprach und mich auf kürzestem Wege zu meiner Mutter begab." (S. 236)

"Früh begann ich damit, all das zu lesen, was irgendeinen Bezug zur Philosophie hat. Niemand sagte mir das, aber gefühlsmäßig wußte ich, daß die Fragen, welche mich quälten, die Philosophie begründeten und daß die Philosophen die Menschen sind, die mich wirklich beruhigen und trösten können. Bei ihnen habe ich die Lösung der ewigen Fragen nach der Entstehung der Welt und ihrer Zukunft gesucht, die Lösung und Enträtselung dessen, was mein inneres Leben ausmachte." (S. 236)


Biographische Notiz zu M. W. Besobrasowa (1857-1914)

Erste russische Frau, die professionelle Philosophin wurde. Ausbildung in einem deutschen Pensionat, durchläuft nebenbei selbständig den Kurs des Männergymnasiums, besucht die Vorlesungen D. I. Mendeleews und A. N. Beketows auf den "Höheren Frauenkursen". Sie beendet eine pädagogische Ausbildung 1876 und reist nach Zürich, wo sie sich als Gasthörerin an der Universität einschreibt. Im Jahr 1891 verteidigt sie ihre Dissertation zum Thema: "Handschriftliche Materialien zur Geschichte der Philosophie in Rußland".

In Rußland wird sie bald für ihre herausragenden Vorträge zur Philosophie bekannt. Allerdings konnte sie keine Anstellung erhalten, die ihrer Spezialisierung entsprochen hätte. Von den übrigen Philosophieprofessoren wurde sie nicht anerkannt. Auf ihre Initiative hin wird die "Russische philosophische Gesellschaft" an der St. Petersburger Universität gegründet, aber sie selbst wird von Organisation und Tätigkeit der Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen.

Ihre zahlreichen Arbeiten, vor allem zur Philosophiegeschichte, wurden im In- und Ausland populär.

Der oben zitierte Textausschnitt aus Rosanows Buch stammt ursprünglich aus ihrer Autobiographie: "Gutes und Schlechtes aus meinem Leben". St. Petersburg 1910, die mir im Original leider nicht zugänglich war.



 

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