30.09.2011

Der Wolf

Oster-Anthologie Glocken läuten wieder hellerDer Wolf



Der Wolf

In: Oster-Anthologie 1993 "Glocken läuten wieder heller". 
edition haag (hg. v. H.-A. Herchen). Haag + Herchen, Frankfurt a. M. 1993



1.

René stand in jener Mondnacht wieder am Fenster und lauschte in die Stille hinaus. Da war es wieder, jenes Heulen. So konnten nur Wölfe heulen. Immer wurde er unruhig in solchen Nächten. Immer zog es ihn hinaus. Seine Frau schlief. Er zog sich langsam an. Ihn fröstelte. Zuerst fröstelte ihn immer. Dann verließ er langsam die Wohnung.

Vollmond. - Ein rotgefärbter Vollmond. Da mußten ja die Wölfe heulen. Wo würde er ihn diesmal suchen müssen? Wieder im Wald? Im Park vielleicht? Es war ein schöner Wolf. Sehr stark. Mit schwarzem glänzendem Fell und dunklen Augen. Die Augen - ja besonders die Augen hatten es ihm angetan.

Manchmal mußte er ihn rufen. Tatsächlich - der Wolf hatte einen Namen.

Diesmal irrte er umsonst umher. Er war nicht da. Traurig schlenderte er an den Kneipen vorbei. Drinnen saßen in verrauchten Zimmern rauchende Männer. Der Wolf haßte Rauch. Hier würde er ihn nicht finden. Aber er würde warten. Auch, wenn er die ganze Nacht warten mußte. Im Park. Vielleicht würde er doch in den Park kommen.

Er saß nun schon seit zwei Stunden auf der Bank. Die Unruhe war stärker geworden. Das Heulen drang immer deutlicher an sein Ohr. Gleich mußte er dasein. Tatsächlich. Aber, was war das? Das war nicht sein sanfter, gutmütiger Wolf, das war ein riesengroßes Raubtier. Nein - die Augen, die Augen verrieten ihn. Es war sein Wolf. Knurrend lief der um René herum. Beschnupperte ihn. Stieß ihn an. Viellicht würde der ihn heute in das Mysterium einweihen. Mit einer Kopfbewegung forderte ihn der Wolf auf, auf seinem breiten Rücken Platz zu nehmen. In rasendem Tempo ging es nun Richtung Wald. Aber nein - das war kein Wald, sondern ein See. Genaugenommen konnte man es auch als Meer bezeichnen. Schneller, schneller mein Wolf!

Plötzlich bekam er Angst. Immer bekam er Angst, wenn sie sich der riesigen Feuerstelle näherten. Er sah das Feuer - und ließ sich mit einem Ruck vom breiten Rücken seines Begleiters fallen. Er fiel ins feuchte Gras. Ihn fröstelte. Langsam stand er auf. Der Wolf sah ihn an, knurrte unwillig und verschwand.


2.

"Wirst du dich nun von deiner Frau scheiden lassen, oder nicht? Vor allem, warum willst du dich scheiden lassen?"

Immer wieder mußte die Kollegin auf dieses für René so unerquickliche Thema zu sprechen kommen. Er sah zum Fenster hinaus. Sein Büro lag im 10. Stock des Hauses, das sich die Versicherungsfirma, bei der er arbeitete, mitten im Stadtzentrum gekauft hatte. Allerdings stellten die Planer zu spät fest, daß man sich verkalkuliert hatte. Das Stadtzentrum war nun eigentlich schon nicht mehr Zentrum. Ziemlich rasch verlagerte sich dieses nämlich auf beinah gespenstische Weise und man befand sich nun quasi am Stadtrand.

"Ich habe es mir fest vorgenommen. Aber immer, wenn ich mir sage 'Morgen gehst du hin, morgen reichst du die Scheidung ein', dann versage ich im entscheidenden Moment."

"Man darf sich solche Sachen nicht zu schwer machen. Entweder man geht auf sein Ziel zu und setzt es durch. Oder man läßt es bleiben. Was sagt sie eigentlich dazu?"

"Ich habe es ihr ja noch nicht einmal gesagt. Mir fehlt ganz einfach der Mut."

"Dann mußt du eben bei ihr bleiben. Ich verstehe auch wirklich nicht, warum du dich scheiden lassen willst. Sie ist so eine hübsche Frau. Was hast du denn? Wenn du dich übrigens schon scheiden lassen willst, warum gehst du dann nicht mal mit mir aus? Ich zieh auch extra das blaue Minikleid an."

"Mal sehen ..." Warum war sie nur immer so aufdringlich. Aber er konnte ihr einfach nicht die Wahrheit sagen ...

René war es plötzlich als sei der Blick jenes dunklen Wolfes auf ihn gerichtet. Fletschte der nicht die Zähne? Er zog rasch wieder das Foto aus der Tasche. Das Foto, das niemand sehen durfte. Es war, als ginge eine Zauberkraft von jenem Foto aus. Es gab ihm seinen Mut zurück

"Was hast du denn da? Zeig mal!" Petra war neugierig geworden.

Da war er wohl zu unvorsichtig gewesen.

"Es ist nichts. Wirklich. Nur, nur ein Wolf ..."

"Ein Wolf?" Sie sah ihn ungläubig an. Schnell steckte er das Bild in die Tasche seines Jackets zurück.

"Wieso schleppst du Bilder von Wölfen mit dir rum?"

"Ich mag sie."

"Ich nicht. Ich graule mich vor ihnen. Sie sind blutrünstig."

"Das ist ein Vorurteil."

"Du immer mit Deinem 'Das ist ein Vorurteil!'" Petra sprach es langgezogen mit besonderer Betonung aus. Vielleicht benutzte er ja das Wort Vorurteil wirklich zu oft. Aber er benutzte es, um es zu bannen, denn das Wort schreckte ihn.

"Na, dann zeig mir doch das Tierchen mal!" forderte Petra ihn nun doch nachdrücklich auf.

"Ach, laß mich in Ruhe!"

Erregt stand René auf. Er ging zum Fenster und beobachtete die untergehende Sonne. Rot und glühend versank sie im Häusermeer. Es sah beinahe so aus, als versinke sie direkt im Stadtzentrum.

"Schade, daß wir nicht mehr im Zentrum sitzen", sagte er zu Petra, um sie vom vorherigen Gesprächsthema wegzubringen.

"Was soll es. Hier ist es ruhiger. Man hat das Gefühl, als wär hier weniger Hektik. Zentrum, Zentrum. Ich geh' wieder. Machs gut ... und überlegs dir ... vielleicht morgen abend?"

"Also dann!".

Noch eine Stunde, dann könnte auch er gehen. Heute wollte er sich wappnen. Der Wolf durfte ihn diesmal nicht erschrecken. Er mußte das Mysterium lösen. Er fühlte, daß er sich dann nicht mehr fürchten würde. Nie mehr.

Zuweilen plagte ihn eine furchtbare Angst. Dann raste sein Herz. Raste, daß er glaubte, es werde ihn zurücklassen, es werde durch den Raum rasen, ohne ihn. Nur das Herz würde dann noch dasein. Er würde im Nichts vergehen. Er lauschte. Jetzt, da er allein war, schlug es besonders stark.

Das Telefon klingelte. Er ging zum Tisch. Steckte sich dabei eine Zigarette an. Er suchte in der Jackentasche nach Streichölzern. René bemerkte nicht, wie ihm dabei das Foto aus der Tasche fiel. Nun lag es mitten im Zimmer.

Petra kam zurück. Hob es auf. Erstarrte erst. Lachte dann los. Schüttelte den Kopf. Wurde ernst. In ihrem Gesicht spiegelte sich Ekel wider.

"Kein Wunder! Erzählst mir Geschichten von Wölfen. Gut, ich dachte du bist zum Tierfreund geworden, der eine liebt Kaninchen - du Wölfe, was soll's? Aber das ist ja total pervers. Das ist das Letzte! Da steht ja hinten sogar was drauf ... von ... Du lieber Himmel. So ist das also mit dir! Na, danke! - jetzt wird mir alles klar!"

Sie stürzte aus dem Raum. Das Foto trug sie weit vorgestreckt halb angewidert, halb schadenfroh vor sich her.

'Na prima', dachte René, 'Nun ist alles aus.' Die Angst steigerte sich ins Maßlose. Endlich Dienstschluß. Kollegen, die er traf, sahen zur Seite. Taten, als bemerkten sie ihn nicht. Oder schien es ihm nur so? Er rannte den Gang hinunter.

Zitternd ging er durch die Straßen. Es dämmerte. Die Schaufenster zerstrahlten das bißchen Wärme. Bunte, kalte Wunderwelt. Doch da - tatsächlich. Da spiegelte sich sein Begleiter der letzten Nacht in der Scheibe. Der Wolf war zurückgekehrt. Der schien ihn bitten zu wollen, ihm zu folgen. René folgte. Er war außer Atem, hatte aber das Gefühl, daß ihn seine Beine schneller trugen, als es sein Körper eigentlich vermochte. Eine unsichtbare Kraft trug ihn. Sie erreichten den Wald. Es ging durchs Dickicht. Endlich standen sie vor einer Lichtung. Da waren noch mehr Wölfe. Viele, sehr viele. Sie bildeten einen Kreis. Im Kreis brannte ein Feuer. Strahlte hell wie eine Sonne. Sein Wolf versuchte, ihn in den Kreis zu drängen. Er sträubte sich. Die übrigen Wölfe fletschten die Zähne. Er trat in den Kreis ein. Es schien, als würden sich die Tiere nun beruhigen. Dann sah er auf seinen Wolf. der stellte sich auf die Hinterpfoten und brüllte. René glaubte zu begreifen. Er sollte sich innerhalb des Kreises bewegen. René begann zu laufen. Immer nah am Rand. Die Tiere schienen ihn weiter in die Mitte des Kreises drängen zu wollen. Weiter dem Feuer zu, das wie eine Sonne leuchtete. Manchmal kam er dem Mittelpunkt sehr nah, dann durchfuhr ihn eine herrliche, wohltuende Wärme. Aber er hatte immer noch Angst. Die Angst zog ihn vom Feuer weg. Er drängte die Tiere zurück, drängte zum Rand des Kreises. Endlos schien diese Prozedur anzudauern. Immer wieder hin zur Mitte. Immer wieder weg von der Mitte. Der Kreis wurde größer. Er drängte die Wölfe immer weiter zurück. Weiter fort vom Feuer. Endlich öffnete einer den Kreis. René hatte das Gefühl, als werde er herausgeschleudert aus der Wärme. Es schien, als wären da hundert fremde Kreise, die ihn anzogen. Magisch anzogen. Da loderten auch Feuer. Aber fremde Feuer.

Noch einmal schrie sein schöner schwarzer Wolf laut auf. Dann wurde es ganz still. Die Wölfe verschwanden. Der Kreis verschwand. Auch das Feuer. Nur einmal noch sah ihn sein Wolf durch die Bäume hindurch an. Es schien, als sei er traurig. Aufgewühlt gelangte René zu Hause an. Er wagte wieder nicht zu seiner Frau von der Scheidung zu sprechen, über sich zu sprechen.


3.

Sein Chef hatte ihn zu sich bestellt. Der sah sehr wütend aus, zwang sich aber zur Ruhe.

"Setzen Sie sich bitte", sagte er barsch. "Soetwas hätte ich nicht von Ihnen erwartet. Sicherlich entläßt man deswegen heute niemanden mehr. Aber sie hätten dieses Foto ja auch nicht allen zeigen müssen. Noch dazu mit Aufschrift. Wenn Sie wenigstens mit mir einmal darüber gesprochen hätten, dann wäre ja auch alles halb so schlimm. Aber wie stehe ich jetzt da. Ich wollte Sie zum Abteilungsleiter machen. Das wird ja nun jetzt nichts mehr."

"Sie haben sicher recht. Ja, sicher. Es war ein Fehler. Wäre die Aufschrift nicht gewesen ..."

"Ja, natürlich. Dann hätte sich womöglich keiner was dabei gedacht. Nun sind Sie zum Gespött der ganzen Truppe geworden. Wenn Sie nur nicht so feige gewesen wären, es die ganze Zeit geheimzuhalten. Nun ist der Jagdtrieb in den Leuten erwacht. Die Angst des Tieres reizt die Räuber ... Mann, ich schätze Ihre Arbeit. Aber das hier, das hat mich sehr erschüttert. Nun, wir werden weitersehen."

René verließ den Raum. Wieder schien jeder, dem er begegnete, über ihn zu lachen, zu lästern, sich lustig zu machen. Wie er sie alle haßte! Wieviel Angst er vor ihnen hatte!"

Da faßte er einen Entschluß. Er mußte unbedingt wieder in den Wald. Mußte zu den Wölfen. Mußte, ja mußte wieder ins Feuer ... Er spürte es genau - nur das Feuer würde ihn retten. Er wartete den Dienstschluß nicht ab, fand den Weg wieder, fand auch die Wölfe. Es schien als hätten sie bereits auf ihn gewartet. Sie drängten ihn in den Kreis, immer näher dem Feuer zu. Er stand in der Mitte des Kreises. Ihm war, als drehe er sich in rasend schneller Bewegung, als erhebe sich ein wunderbarer Chor aus tausend und abertausend Stimmen ...

Fester, immer fester drückte René seinen Freund, seinen Geliebten an sich. Er spürte dessen Wärme, den heißen Atem auf seiner Haut. Ihm war schwindlig vor Glück.

"Wenn ich bei dir bin, dann bin ich eigentlich nur richtig bei mir", sagte er zu Maik und lächelte ihn an.

"Übrigens muß ich dir etwas erzählen. Ich habe in letzter Zeit so sonderbare Visionen. Ich sehe immer Wölfe, vor allem einen schönen, schwarzen, der mich immer zu einem bestimmten Ort führen will. Da ist ein Kreis. In der Mitte brennt ein Feuer. Drumherum sitzen Wölfe. Die wollen, daß ich in die Mitte gehe. Ich habe aber Angst. Sie bedrängen mich. In der Mitte geht es mir gut. Ich habe Angst, weiche an den Rand aus. Magisch ziehen mich andere Kreise an. Aber einmal, einmal war ich in der Mitte. Es war herrlich. Es war so schön, so schön wie eben mit dir. Kannst du dir erklären, was das bedeuten könnte?"

"Du weißt es nicht? Na klar, kann ich es erklären." Maik strich sein schönes schwarzes volles Haar nach hinten und sah den Freund liebevoll an. Es tat René gut, in Maiks Augen zu blicken.

"Also der Kreis - das ist dein "ICH". Wenn Du Dich im Zentrum des Kreises befindest, bist du frei und Du bist stark und Du bist gefeit gegen alle Dinge, die Dir etwas anhaben könnten."

Weißt Du, warum im Märchen die Leute immer einen Kreis um sich ziehen, in deren Mitte ihnen niemand - weder Geister, noch Dämonen - etwas anhaben kann ...?"

"Ich beginne zu begreifen ... "

"Ja, Du verstehst es richtig, sie befinden sich in ihrem Mittelpunkt. Niemand kann ihnen dann etwas anhaben."

"Und wer aus seinem Mittelpunkt fällt?"

"Der rotiert entweder am Rand, da hat er noch Hoffnung in den Mittelpunkt zurückkehren zu können. Aber, es kann auch sein, daß er außerhalb seines Kreises gerät, da eine andere starke Person, die stark in ihrem Mittelpunkt verankert ist, ihn mit magnetischen Kräften anzieht. Er verliert sich, gibt seinen Willen auf. Den kann man dann ausnutzen."

René schien es erneut, als ob sich alles um ihn herum zu drehen begänne. Er klammerte sich an den Freund. Die drehten sich eine Weile in einem riesigen Kreis. Sein Herz schlug laut und froh. Dann war ihm für einen Moment als wären sie beide im Wald und um sie herum säßen die Wölfe. Jener dunkle Wolf sah ihn mit einem Lächeln an.

"Weißt du Maik, ich glaube, wenn ich mit dir zusammen bin, dann finde ich jedesmal meinen Mittelpunkt. Ich möchte ihn nicht mehr verlieren."

Er strich dem Freund über das mattglänzende schwarze Haar.

"Morgen sag ich meiner Frau die Wahrheit. Dann hat auch ihre Qual ein Ende und ich reiche die Scheidung ein."

Es war, als sei er zum zweiten Male geboren worden.



  

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