30.09.2011

Traumsplitter

Endlich ICH. Transsexuelle ErlebnisweltenTraumsplitter



Traumsplitter

In: Endlich ICH. Transsexuelle Erlebniswelten
Selbstverlag 2000, ISBN 3-00-007084-2, S. 105 - 110



Der See blinkte mit seinem unheimlich wirkenden Blau durch die Bäume. Hier, wo sie beide saßen, merkte man fast nichts von dem Badebetrieb, der sich weiter unten abspielte. Sebastian hatte sich zurückgelehnt und betrachtete seinen Freund, der den Oberkörper bereits entblößt hatte, nun aber innehielt und eine Gestalt beobachtete, die am blauen Rand des Sees entlang ging.

"Ist das ein Mädchen oder ein Junge?" fragte Sebastian und wandte Marc das Gesicht zu.

Sebastian hatte wunderschöne große Augen, die seinem von der Sonne bereits gebräunten Gesicht den Hauch von etwas nicht Hiesigem gaben. Man meinte, es sei da der Schimmer einer anderen Welt, einer nicht irdischen Wirklichkeit. Marc sagte ihm einmal, daß ihm seine Augen unheimlich seien. Unheimlich wie dieses Stück See, das hier durch die Bäume schimmerte und einen gänzlich unerreichbaren Eindruck machte, währenddessen ein paar Schritte weiter der schrille, bunte Badestrand sich in nichts von dem anderer Seen unterschied.

"Ich weiß nicht. Es sieht aus wie ein Mädchen. Dem Schritt nach ist es aber wohl ein Junge. Aber, was kümmert uns das? Warum ziehst du dich nicht weiter aus? Willst du wieder angezogen in der Sonne braten. Das vorige Mal hast du gesagt, du wärst erkältet, und ein anderes Mal hättest du angeblich schon einen Sonnenbrand. Ich kenne dich nur von oben bis unten zugeknöpft", fügte er nach einer Weile etwas vorwurfsvoll hinzu.

Damit berührte er wieder jenen wunden Punkt, der Sebastian, jedesmal, wenn das Gespräch darauf kam, zusammenzucken und einsilbig werden ließ. Zuerst fand Marc Sebastians Zurückhaltung gut. Sie war es, die ihm derartig imponiert hatte, daß er Sebastian nicht mehr aus den Augen ließ. Beinahe täglich rief er bei ihm an, bat ihn darum, mit ihm auszugehen, kaufte Kinokarten und einmal sogar Logenplätze für Tschajkowskis "Schwanensee".

Aber allmählich gab er Sebastian zu verstehen, daß dieses ständige Abwehren jeder Zärtlichkeit und dessen strikte Ablehnung, auch nur ein Stück seines Körpers preiszugeben, auf immer weniger Verständnis seinerseits stieß.

Aber er bewies dennoch Geduld und hatte sich auch allerhand einfallen lassen, Sebastian nun schon zum drittenmal zum Badengehen einzuladen.

Gestern abend sagte er ihm dann, daß er einen großen Wunsch hätte - endlich Sebastians Körper kennenlernen zu dürfen, einmal nur dessen nackte Haut zu streicheln. Er versprach, nicht mehr zu verlangen, als dieser beim ersten Mal zu geben bereit wäre. Vielleicht diesmal beim gemeinsamen Badengehen. Er habe einen See ausfindig gemacht, den er selbst bisher noch nicht gekannt habe. Da gäbe es ruhige Plätze. Rundrum Wald und Sträucher. Nach langem Zögern ließ sich der Freund überreden. Nun aber saß er weiter im Jogging-Anzug neben Marc und machte keine Anstalten, sich wenigstens des Oberteils zu entledigen.

"Sieh mal, Marc, da hinten. Sieht aus, als ob ein Gewitter aufzieht. Ich werde noch warten. Ist doch schon wieder ziemlich kalt geworden."

Marc, der älter als Sebastian war, wirkte traurig.

Er war nicht eigentlich alt, aber für einen ihresgleichen war er wohl doch schon zu alt. Die dunklen abendlichen Parks gaben ihm keinen Platz mehr und auch jene anderen verschwiegenen Orte verschlossen ihre Türen.

Sebastian war froh, daß es so war. Ihn störte der Altersunterschied nicht. Er glaubte, daß hier noch ein wenig Hoffnung war auf etwas, was er von einem Partner erwartete. Ein Traum, den er ein Leben lang geträumt hatte, könnte nun in Erfüllung gehen. Er könnte die Bäume beleben, das Gras, auf dem sie lagen, erwärmen, den einsamen Schwan, den es auf dem See noch nicht gab, herbeizaubern.

Er versuchte, den Reißverschluß des Jogginganzugs zu öffnen, aber die Finger versagten ihm den Dienst.

"Du zitterst ja richtig", lächelte Marc nun, durch Sebastians Hilflosigkeit mit dessen Zurückhaltung versöhnt.

"Soll ich dir helfen?"

"Nein, es geht."

"Du hast ja noch ein Hemd drunter. Ich faß es nicht. Vielleicht bist du wirklich krank."

"Ich wollte dir vorhin im Auto etwas erzählen. Erinnerst du dich?"

"Ja, ja. Du wolltest mir erzählen, warum und wie dich dein, wie du behauptest, erster Freund verlassen hat. Stimmt's?"

"Ja, das ist richtig."

"Nun mach nicht so ein Gesicht. Ich kann warten. Ich will deine Geschichte hören. Wirklich!"

Das klang tröstlich und versöhnte Sebastian wieder mit Marcs manchmal hervortretender ironischer Art. Der See erschien ihm in diesem Moment noch dunkler zu werden, obwohl von Gewitterwolken in Wirklichkeit nicht einmal die Rede sein konnte.

"Der See hat was märchenhaftes an sich, findest du nicht", wandte sich Marc an seinen Freund noch ehe der die Gedanken für die eigene Geschichte ordnen konnte.

"Dann war das vorhin weder Junge noch Mädchen, sondern ein zwergenhafter Waldgeist, der die Sinne verwirrt und allen eine Frage stellt, die niemand beantworten kann."

"Du sprichst wieder mal in Rätseln. Ich hoffe aber, deine Geschichte ist nicht rätselhaft. Ich bin heute zu müde zum Knobeln."

"Nein, es wird eine sehr einfache und klare Geschichte."

"Das glaub ich nicht. An dir ist nichts klar."

Marc zog Sebastian an sich und versuchte, durch die Kleider hindurch dessen Körper zu erspüren. Wieder entdeckte er jenes unheimliche Leuchten in den Augen des Freundes. Der wies auf den See.

"Sieh dir das an, da schwimmt ein Schwan! Ein Schwan. Tatsächlich! Das bringt Glück."

"Aber ein schwarzer, mein Lieber. Schwarze Schwäne sind etwas völlig anderes als weiße Schwäne. Wenn du schon ein geheimnisvoller Waldgeistkenner bist, müßtest du das schon wissen."

"Es ist egal. Ich werde jetzt besser erzählen."

Dies Stück zur Erde gekommenen Traum wollte er sich durch weiters Analysieren nicht zerstören lassen.

"Er hieß Frank und ich lernte ihn in einer Disco kennen. Ich denke, wir waren uns auf den ersten Blick sympathisch. Ich war das erste Mal in einer solchen Disco. Deshalb war ich unheimlich aufgeregt, als er mich ansprach."

"Deine erste Disco? Wie alt warst du denn da? Sechzehn?"

"Nein, achtundzwanzig."

"Du lieber Himmel, da brauche ich mich ja wirklich nicht mehr zu wundern."

"Wir tanzten den ganzen Abend zusammen, obwohl es leider zu wenig Tänze gibt, bei denen man wirklich zusammen tanzen kann. Aber im Prinzip war es ganz gut so. Denn manchmal drückte er mich derartig an sich, daß es unheimlich weh tat."

"Weh tat?"

"Ja, weh tat. Die Operation lag noch nicht lange zurück. Der ganze Brustkorb schmerzte."

"Du bist operiert worden?"

"Ja, aber das kommt später."

"Also bist du wirklich krank gewesen, vielleicht jetzt noch krank. Entschuldige, wenn ich taktlos war."

"Du warst nicht taktlos. Du konntest nichts wissen. Und du weißt ja auch jetzt noch nichts."

"Warte mal, ich fang uns den Salamander da!"

Marc sprang auf und jagte dem rötlichen Tier hinterher, bis dieses ganz plötzlich unter einer Wurzel verschwunden war. Atemlos kehrte er zurück.

"Ich hätte ihn dir geschenkt. Vielmehr unters Hemd geschoben. Dann hätte ich mir von ihm erzählen lassen, was es dort zu sehen gibt."

Marc lachte gutmütig auf und entledigte sich nun auch noch seiner langen Hose, die er mit Rücksicht auf Sebastian bis jetzt anbehalten hatte.

Sebastian bestaunte Marcs muskulösen Körper, dessen Haut, die noch überall straff war und kaum überschüssigen Fettansatz aufwies. Ergebnis harter Trainingsstunden.

"Gib mir deine Hand und erzähl weiter", forderte Marc ihn nun auf.

Sebastian legte seine noch schmale Hand in Marcs kräftige Hände und fuhr fort:

"Wir sahen uns jeden Abend. Es war beinahe wie jetzt mit dir."

"Du willst mich eifersüchtig machen?"

"Nein. Wir trafen uns nur in Kneipen. Er versuchte ständig, mich zu sich einzuladen. Aber ich wollte nicht mitgehen."

"Genau wie mit mir ..."

"Ja."

"Du erzählst nicht etwa unsere Geschichte? Bis auf die Disco stimmt alles."

"Nein, ich hoffe nicht, daß es auch unsere Geschichte wird."

"Na, da bin ich ja beruhigt." Marc rekelte sich. "Schön in der Sonne. Du ahnst nicht, was du verpaßt."

"Er stellte mich sogar seinen Eltern vor. Die schienen auch ganz angetan von mir zu sein. Die Mutter hatte russischen Zupfkuchen gebacken und der Vater versuchte, mir einen Wodka nach dem anderen einzuhelfen."

"Das können nicht meine Eltern gewesen sein."

Marc lachte.

"Nein. Schließlich überredete er mich mit ihm nach Holland zu fahren. Er mochte Blumen. Besonders Tulpen. Ich wollte nicht, aber er schaffte es schließlich, mich zu überzeugen. Dazu gehörte auch nicht mehr viel. Ich hatte mich inzwischen in ihn verliebt."

"Daraus muß ich für mich ja recht traurige Schlüsse ziehen", versuchte Marc nun ein zu betrübtes Gesicht zu machen, was ihm natürlich nicht gelang.

"Wir fuhren los. Es war ein regnerischer Sonnabend. Auf der Autobahn kamen wir überhaupt nicht voran. Mehrere Staus hintereinander. Frank fluchte. Dann schlug er vor, zu einem Rasthof zu fahren. Er war müde. Es war bereits später Nachmittag. Vielleicht etwas essen. Warten, ob der Stau sich auflöst oder in die nächste Stadt fahren."

Marc begann inzwischen, Sebastians Hemd aufzuknöpfen. Er strich über die leicht behaarte Brust, fuhr an den Narben entlang, ohne zu fragen, woher sie denn stammten. Sebastian schloß die Augen. Wenn er sich doch fallenlassen könnte. Nur für einen Augenblick. Aber er mußte erst seine Erzählung beenden.

"Frank stellte das Auto ab. Wir erhielten im Motel ein Zimmer."

Marcs Finger glitten inzwischen tiefer. Sebastian ließ es geschehen, daß sie auch die restliche Kleidung abstreiften.

"Du hast einen sehr schönen Körper" sagte Marc. "Wie du dich immer geziert hast, hätte man ja sonst was annehmen können."

Er wollte Sebastian berühren, doch der hielt seine Hand fest. Mit mehr Kraft als ihm zuzutrauen war.

"Hör bitte erst zu."

"Ist ja schon gut."

"Wir stellten die Sachen im Zimmer ab und alberten rum. Er warf mich aufs Bett und begann, mich auszuziehen, ähnlich wie du jetzt eben."

Da hab ich ihm gesagt, daß mein Körper, so wie er damals war, noch nicht sehr alt ist. Ich habe ihm versucht zu erklären, daß ich 27 Jahre in einem Körper gelebt habe, der meiner Seele nicht entsprach, einem Körper mit weicher Haut und Brüsten. Es fiel mir nicht leicht, darüber zu sprechen. In mir krampfte sich bei der Erinnerung an diesen Zustand alles zusammen. Ich mußte es ihm sagen, denn er hätte ja doch gemerkt, daß etwas nicht stimmt. - Da zog er seine Hand zurück. Und er sah mich sehr lange sehr traurig an.

Dann stand er auf, zog sich an und ließ mich allein im Motel zurück.

Marc war aufgesprungen. Ein Schatten verdeckte Sebastian das Entsetzen, daß sich in dessen Gesicht spiegelte. Er ging ein paar Schritte zurück und blieb stehen.

Der See war inzwischen tief dunkelblau verfärbt. Es sah aus, als würde der schwarze Schwan mit der Farbe des Wassers verschmelzen.

Marc beugte sich zu Sebastian nieder und sah ihn sehr lange sehr traurig an.



  

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