30.09.2011

Schicksal

Wir schreiben. AnthologieSchicksal



Schicksal

In: Wir schreiben. AutorInnen stellen sich den Medien vor.
edition haag (hg. v. H.-A. Herchen). Haag + Herchen, Frankfurt a. M. 1994



1.

Sein Auftritt auf der internationalen Philosophiekonferenz war bisher recht erfolgreich gewesen. Sein Referat widmete er dem Freiheitsbegriff. Dabei verwandelte er Freiheit in Schicksal und bewies schließlich beider Identität. Noch jetzt klang in ihm der Beifall für seine Argumentation nach.

Nun wartete er auf seine Schicksalsgöttin. Diesmal wartete er bereits recht ungeduldig auf sie.

Natürlich war sie keine Göttin, sondern hieß einfach Hannelore und war die Frau aus seinem Fachbereich, die es immer wieder schaffte, an fast allen Konferenzen teilzunehmen. Da ihm dies meistens ebenfalls gelang, waren sie ein beinah festgefügtes Duo, und sie hatte schon sehr oft für ihn im rechten Moment Schicksal gespielt. - Damals in jener Bar in Florenz, als der junge Italiener mit den halblangen schwarzen Haaren ihm zunickte, ihn anlächelte, und er nahe daran war, diesem freundlichen Lächeln hinter eine in freundliches Grün gehüllte Tür zu folgen, war sie erschienen. Sie bewahrte ihn davor, abzuweichen von seinem Lebenspfad und sich in Gefahr zu begeben.

Als er die Professorenstelle erhielt, entschloß er sich, ein vollkommener Asket zu werden. Asketentum sollte seinen Geist befreien, ihm die Möglichkeit geben, die unendlichen Weiten des menschlichen Geistes zu durchmessen. Askese sollte ihn vor allem vor unliebsamer Auseinandersetzung mit der seinesgleichen feindlich gesinnten Umwelt schützen.

So war Hannelore für ihn zur willkommenen Schicksalsgöttin geworden, tauchte sie doch mit konstanter Regelmäßigkeit in den Momenten auf, wenn er kurz davor war, vom Pfad der Tugend abzuweichen und sich an den Rand eines Abgrunds zu begeben. Damit wurde das Schicksal für ihn zu einer Freiheitsgarantie.

Aber heute nun ließ ihn jene das Schicksal repräsentierende Gewalt völlig unerwartet im Stich. Er saß schon seit über einer Stunde im Hotelrestaurant und wartete auf ihr Erscheinen. Sie hatte ihm nicht direkt versprochen, mit ihm zu Abend zu essen - das tat sie freilich nie -, aber sie war noch immer gekommen. Dafür hatte vor einer halben Stunde am Nebentisch ein junger Mann Platz genommen, schlank, mit dunklem Haar und dunklen Augen. Der sah zu ihm herüber und Gerd war unvorsichtig genug gewesen, in diesem Moment nicht wegzuschauen. Daraufhin überkam ihn ein sonderbares Gefühl in der Magengegend, die sich konvulsionsartig zusammenzog und plötzlich unkontrollierte Reflexe an alle Empfindungszentren seines Körpers sandte. Erschrocken ließ er seinen Blick erst einmal zu dem schönen Kronleuchter schweifen, von dem das falsche Kristall in großen Tropfen herabhing und dennoch angenehm funkelte. Die Welt will eben betrogen sein. Doch hielt es seinen Blick da nicht lange und unwillkürlich schweifte er unglücklicherweise völlig unkontrolliert wieder zum Nebentisch. Der junge Mann sah auch schon wieder oder immer noch in seine Richtung, was Gerd veranlaßte sich seinem nun allerdings leeren Teller zuzuwenden. Als er feststellte, daß es darauf nichts mehr zu tun gab, begann er mit der Zigarettenschachtel zu spielen. Sich mühsam einen gelangweilten Gesichtsausdruck kreierend, hob er nun von unten den Blick und traf abermals mit dem lächelnden Augenpaar des Mannes zusammen, der ihm bereits als ernsthafte Bedrohung erschien.

Gerd wandte den Kopf zur Tür. Seine Schicksalsgöttin war nicht zu sehen.

Der andere schien auch verlegen und unsicher, wurde nun gar rot, was Gerd wieder zu jenem glühendem Stich in der Magengegend verhalf und nun schon eine beträchtliche Herausforderung für seinen kühlen, klaren Verstand darstellte, der sich bisher nie seiner Kontrolle entzogen hatte.

Er sah sich um. Keine Hannelore - aber die Gefahr der Hoffnung, daß sie noch kommen würde, bestand weiter.

Ob er wohl für einen Augenblick hinübergehen sollte? Man konnte nach Zigaretten fragen. Aber nein, die hatte er ja selber. Er hätte die Schachtel lieber zur rechten Zeit verschwinden lassen sollen.

Gerd wagte einen erneuten Blick hinüber und stellte enttäuscht fest, daß der andere nunmehr mit der Menükarte beschäftigt war. Wenigstens konnte er ihn jetzt in Ruhe betrachten. Dunkle Hosen, helles Hemd, der Kragen geöffnet, schlank und doch kräftig.

„Würde er diese Nacht mit mir verbringen oder nicht?"

Wo blieb nur Hannelore? Warum befreite ihn keiner aus dieser quälenden Unentschlossenheit. Sein Herz begann sich rascher und rascher zu bewegen, verließ den gewohnten Rhythmus, und die ungewohnt hohe Pulsfrequenz trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Seine Hand konnte das Weinglas nicht mehr ruhig halten.

„Schließlich kann man einfach nach der Uhrzeit fragen", entschied er sich plötzlich für einen uralten Trick. Er stand auf.

In diesem Moment aber erschien sie. Seine Schicksalsgöttin. Sie kam im hellblauen Minikleid mit glänzendem offenen Goldhaar auf ihn zu. Er erstarrte und fand den Stuhl hinter sich nicht mehr, um sich darauf niederzulassen. Doch das Schicksal rauschte an ihm vorbei und erwies sich nicht als Hannelore, sondern als fremde Frau mit Ehemann und Gefolge.

Jetzt, da er stand, sah ihn der andere wieder an. Gerd machte die paar Schritte und vergaß seine Frage. Setzte sich zu ihm.

Sein Lächeln entwaffnete Gerd. Erfüllte ihn mit unendlich viel Lust und unendlich viel Schmerz. Denn noch galt es, die Mauer zu durchbrechen. Stück für Stück wagten sich die Worte hervor. Dann war die Quelle aufgetan und ergoß sich in sprudelnden unkontrollierten Sätzen, die dem sonst an logisches Denken gewöhnten Philosophen chaotisch davonsprangen und wie bunte Bälle durch den Raum hüpften und schließlich verschwanden. Dann hallten sie wider und sollten ihm doch nur dieses Lächeln, dieses wunderbare Lächeln seines Gegenüber erhalten. Schon versuchte seine Hand, die des anderen zu streifen. Schon verwirrte dessen Name - Uwe - seine Sinne, indem er einen wilden Tanz in seinem Gehirn aufführte. Schon war ihm dieser Uwe vertraut und er, der seine Schicksalsgöttin völlig vergessen hatte, bat ihn, mit hinaufzukommen, in sein Zimmer. Selbstverständlich. Der drückte die Zigarette aus und folgte tatsächlich, immer noch lächelnd.

Gerd wußte, daß er von einem breiten sicheren Weg abwich. Er ahnte, daß er sich auf bisher unbekanntes, für ihn verbotenes Gebiet begab. Aber es war nur für dies eine Mal. Einmal sich verwandeln, in die Haut eines anderen schlüpfen und dabei man selbst werden - einmal, nur einmal sollte dies geschehen. Im Märchen hat man drei Wünsche frei und er war bereit um des einen willen auf die beiden weiteren zu verzichten.

2.

Als sie allein waren, schien Uwe hilflos und unsicher. Warum war er nur so verwirrt? War auch ihm am Ende schwindlig. Schwindlig vor Angst? Schwindlig vor Glück? Gleich würde er die Grenze überschreiten, würde er das Schicksal herausfordern, würde er mit Freiheit spielen. Da aber vom Schicksal befreite Freiheit ein Traum war, spielte er also nur mit einem Traum. Manche Menschen glauben freilich daran, daß Träume Tatsache seien auf einer weiteren Ebene der Realität. Aber morgen schon wollte er sich dem Wahren fügen, dem gewaltigen Schicksalsrad. Vor dessen Wagen ließ er sich wieder spannen. Er mußte ihn weiterziehen.

Als Uwe in seinen Armen lag, war ihm die Welt da draußen fast egal. Er wähnte sich auf einer Schaukel, die ihn unendlich hoch erhob über alles Gemeine, Niedrige, über die Feigheit, den modrigen Schicksalskarren. Aber den vergaß er nicht für einen Moment.

Nie hatte er derartig stark und anhaltend empfunden, und er war sich sicher, nie wieder so zu empfinden. So nahm er in jedem dieser unsäglich glücklichen Augenblicke für immer Abschied von jenem Augenblick.

3.

Als sich der andere endlich aus seiner Umarmung löste, lagen sie eine Weile still nebeneinander. Gerd, der Abschied genommen hatte, überlegte, daß er morgen den zweiten Teil seines Vortrages halten würde und dann wäre alles wie vorher.

Da sagte Uwe:

„Ich habe es mir immer gewünscht, aber ich habe nicht daran geglaubt, daß es wahr werden könnte, daß auch du mich mögen könntest."

„Wieso? Sind ein paar Stunden für dich immer?"

„Ein paar Stunden? - Seit einem halben Jahr höre ich deine Vorlesungen an der Universität. Ja, ich habe mich irgendwie in dich verliebt. Dabei wußte ich nicht mal, ob du auch empfindest wie ich. Als ich hörte, daß hier eine Konferenz stattfindet, bin ich hergefahren. Meine Bekannten haben gestaunt, daß ich mich derartig in der Philosophie engagiere. Es ist einfach verrückt. Ich hätte nie geglaubt, daß sich mein geheimster Wunsch erfüllt."

Gerd lag ganz starr. Er vergaß für Sekunden das Atmen. Leise flüsterte er, stieß die Worte hervor, mühsam, wohl wissend, daß er hier Klarheit haben mußte.

„Soll das heißen, du bist einer meiner Studenten?"

„Hst du mich denn nicht erkannt? In den Vorlesungen sahst du oft in meine Richtung. War alles nur eine Einbildung von mir? Ein Traum? Du hast mich mitgenommen und geglaubt, ich sei ein Fremder?"

„Ja."

Mehr brachte Gerd nicht heraus. Er drehte sich zur Seite.

„Du wolltest ein Abenteuer für diese eine Nacht?"

„Ja."

„Gut."

4.

Als Gerd am Morgen erwachte, kitzelte ihn die Sonne im Gesicht. Die dunklen Vorhänge ließen die Strahlen einfach hindurch. Sie wirkten eben nur dunkel, diese Vorhänge, in Wirklichkeit waren sie unzulässig durchlässig.

Er sah zur Seite. Er war allein.

Sein Kopf schmerzte. Gedanken verwirrten ihn.

Erpressung. Schande. Schwierigkeiten. Glück. Liebe. Verlangen. Angst.

Auf dem Tisch fand er einen Zettel.

„Verehrter Herr Professor! Ich werde Sie nicht mehr behelligen. Ich reise ab. Ich bin nur Ihr Student. So soll es bleiben, wenn Sie es wollen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Uwe."

Er stand auf und wußte, daß nichts mehr wie früher war. Am Schicksalskarren war das Rad gebrochen. Er mußte verweilen. War ihm damit auch die Freiheit entschwunden?

„Ich stehe am Scheideweg und soll wählen. Aber ich weiß nicht, welcher Weg die Freiheit bringt, indem er sich wieder dem Schicksal vermählt. Vielleicht beide? Vielleicht keiner!"

Er könnte warten und den Weg wählen, auf dem als erster ein Wanderer zu sehen ist.

Gerd öffnete die Tür und lauschte nach draußen. Beide wohnten im Gang links neben ihm. Beide mußten auf dem Weg nach unten an ihm vorbei. Er sah hinaus und wußte nicht, ob er sich wünschen sollte, daß zuerst die Göttin oder sein Geliebter den Weg passieren möge.

Aber der Entscheidung des Zufalls würde er sich beugen.



  

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