Lebensbilder
Lebensbilder
In: Wir schreiben. AutorInnen stellen sich den Medien vor.
edition haag (hg. v. H.-A. Herchen). Haag + Herchen, Frankfurt a. M. 1994
Silvio wollte seinen Teddy wiederhaben. Zum dritten Mal schon umrundete er den Teich, in dessen Mitte Teddy Edgar mit vor Schrecken weit aufgerissenen Glasaugen herumschwamm. Silvio begann, zu weinen. Dicke Tränen rannen ihm in breiten Strömen über die dicken Bäckchen. Mit dem Stock müßte es doch gehen. Aber er war zu klein, hätte er etwas längere Arme, etwa so wie Vati, wäre es wohl gegangen, so gelang es jedenfalls nicht.
Der Teddy drohte inzwischen ins Schilf abzutreiben. Er ragte noch zu einem kleinen Teil aus dem Wasser. Es würde nicht mehr lange dauern und er würde auf dem Grund des Teiches landen.
„Mein armer, armer Teddy", heulte Silvio. „Ich werde dich retten. Du darfst nicht untergehen."
Ohne zu überlegen, platschte er mit seinen dicken Beinchen ins Wasser. Hier war es flach ... Aber ... Was sollte das? Irgend etwas schien ihn nach unten zu ziehen. Dabei war er dem Teddybären schon beträchtlich nahe gekommen. Er hustete. Wasser schwappte in seinen Mund.
Wo war er?
Er war in einer Schule. Aber eigentlich ging er doch noch gar nicht zur Schule. Nur seine Schwester Anne, die hatte ihn einmal mitgenommen. Ob Anne hier war? Nein, nein ... Das war nicht die Schule der Schwester. Und er ... er war auch nicht mehr so klein. Er war gewachsen. Ja - tatsächlich, er war beträchtlich größer geworden. Das sollte ihn freuen. Aber ihn ärgerte irgend etwas in dieser Schule. Da waren Kinder, die lachten über ihn. Eine Junge stieß ihn an. Das war gemein. Gleich würde er zurückschlagen. Aber schon umringten ihn die anderen. Wie sollte er da zurückschlagen? Lieber nichts tun. Lieber ganz ruhig aus ihrem Kreis schleichen.
Silvios Kopf tauchte aus dem Wasser auf. Er schnappte nach Luft. Nun sah er den Teddy beinahe genau vor sich. Das eine Glasauge sah ihn flehend an.
„Na warte nur, Teddy, ich hole dich ja."
Erstmal an dem Ast der Weide festhalten. Papi hatte zu ihm gesagt, es sei eine Weide. Er hatte es sich so gut gemerkt, weil er nicht begreifen konnte, wie eine Weide hier ein Baum sein konnte, wo sie doch eigentlich etwas war, worauf die Pferde grasten. Einmal sagte nämlich der Opi zu einer Wiese Weide. Wirklich sehr komisch. Der Zweig brach allerdings ab, und wieder schwappte das bittere und fürchterlich riechende Wasser in seinen Mund hinein.
Nun war er aber schon wieder ein Stück gewachsen. Er spürte genau, daß er sehr stolz auf seinen Bart war, auf das bißchen auf seiner Oberlippe sprießenden Flaum. Und da war dieses Mädchen. Das Mädchen hielt seine Hand in der ihren und näherte ihren Kopf immer mehr seinem Gesicht. Er fürchtete sich und wollte eigentlich seine Hand aus der des Mädchens befreien.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ein heller Lichtstrahl traf beide. Da standen die anderen - etwa zehn Leute. Alle lachten. Auch das Mädchen. Warum lachte auch sie? Eben noch hatte sie ihn so ernst angeschaut. Oder war dieser Ernst nur ein funkelndes, verstecktes Lachen gewesen?
„Na, Silvio, hat es wieder nicht geklappt?"
Ein großer stämmiger Bursche trat heran und packte ihn am Hemdkragen. Er bekam kaum noch Luft.
„Du weißt was passiert, nicht wahr? Wenn es wieder nicht klappt, mußt du Buße tun. Das haben wir dir doch erklärt, oder?"
Wieder lachten alle, lachten und starrten ihn lange an.
„Sachen runter!" schrie der Dicke.
Silvio wollte sich mit zitternden Händen das Hemd aufknöpfen, doch die versagten ihm den Dienst.
„Na, dann wollen wir dir mal helfen!"
Der Dicke winkte zwei andere, kräftige Jungen zu sich heran. Silvio zitterte.
Sein Kopf tauchte aus dem Wasser auf.
Sonderbar sah das unter Wasser aus. Irgendwelche grünlichen Schlingen waren da und eine Unmenge kleiner schillernder Fischchen. Nun fühlte er kaum noch Grund unter seinen Füßchen, auch war ihm furchtbar kalt. Aber irgendwie schien der Wind ein Einsehen zu haben und den Teddy nun auf ihn zuzutragen. Wenn er sich nur mit der einen Hand irgendwo festhalten könnte, vielleicht wäre es dann möglich, mit der anderen den Teddy zu greifen. Da rutschte er auf etwas aus.
Er saß in einem weichen Sessel. Schön war das. Das Licht nicht zu grell. Er war sich bewußt, daß er gut aussah. Aus irgendeinem Grund wollte er gut aussehen.
Vor ihm auf dem Tisch lag eine rote Rose. Er nahm sie jetzt in die Hand. Er erinnerte sich, daß er sie heute schon mehrmals in die Hand genommen hatte. Eine wunderschöne, herrlich duftende Rose. Jetzt, da er sie erneut betrachtete, durchströmte ihn wieder jenes angenehme, prickelnde Gefühl. Seine Rose. Silvios Herz begann schneller zu schlagen.
Jemand kam zur Tür herein und setzte sich neben ihn. Jemand nahm seine Hand und streichelte sie ganz zart.
„Hast du Angst? Ich hatte auch Angst beim ersten Mal."
Silvio spürte den heißen Atem des anderen. Er ließ die Zärtlichkeiten mit geschlossenen Augen über sich ergehen. Nun sah er Johannes an. Johannes - ein älterer Mann mit wunderschönen blauen Augen, strohblondem Haar und einem jungenhaft spitzbübischen Lächeln. Und Silvio konnte es immer noch nicht glauben, daß er gemeint war, wenn der andere leise sagte:
„Ich liebe dich."
Sein ganzes Wesen war von diesen Worten angefüllt bis zum Rand. Er wollte sich dem anderen hingeben. Jetzt. Irgendwo im Herzen war aber Angst, starke unbezähmbare Angst. Der andere knöpfte Silvios Hemd auf und streichelte seine Brust, Silvio mußte sich zusammennehmen. Er wollte keinen Ton von sich geben, denn damit hätte er die Weihe unterbrochen. Wie eine Weihe kam es ihm vor. Eine Einweihung in ein für sein Leben so wichtiges Mysterium.
„Du darfst keine Angst haben. Du mußt ganz locker sein. Ich werde nichts tun, was dir nicht gefällt."
Er spürte die nackte Haut des anderen auf der seinen. Spürte dessen rauhe Lippen an seinem Hals, seinen Schultern, seinem Bauch. Vorsichtig entkleidete ihn Johannes. Silvio empfand nie gekannte Glückseligkeit.
Silvio hatte endlich den Ast der Weide wieder umklammern können. Auch den Teddy konnte er nun an einem Bein packen. Allerdings hatte sich das Stofftier irgendwo auch selbst festgehängt - wahrscheinlich, um nicht unterzugehen.
„Dummer Bär", sagte Silvio tadelnd.
„Wie soll ich dich denn so retten?"
Nun sah Silvio an sich herunter. Seine Haut war sonderbar runzlig. Seine Hände zitterten. Ja, sie zitterten schon seit ein paar Jahren.
In den zitternden Händen hielt er ein Bild. Ein Mann war darauf zu sehen. Ein, im Vergleich mit Silvio, ziemlich junger Mann.
Den hatte er einst geliebt. Dann war er für immer gegangen. Dann war noch mancher gekommen, aber nur für einen Augenblick, so kurz wie ein Vogelschlagen.
„Ach, Johannes, wenn du noch da wärst. Du würdest vielleicht nicht so zittern wie ich jetzt. Wahrscheinlich würdest du mich sogar auslachen."
Er strich vorsichtig mit der Fingerkuppe über das Bild.
„Ja, ich werde heute kommen und dir eine Rose bringen. Eine, wie du sie mir damals gegeben hast. Damals. Ins Krankenhaus brachte ich dir auch immer Rosen. Erinnerst du dich noch. - Diese verdammte Krankheit!"
Er lauschte nach draußen. Da rannten wieder die Jugendlichen unter seinem Fenster herum und riefen. Er wußte, was sie riefen. Er hatte es ja nie verheimlichen wollen. Früher konnte er sich wehren. Aber jetzt ... Er war zu alt, um sich zu wehren.
Aber sie sollten sehen, daß er kein Feigling war und Johannes sollte schließlich seine Rose bekommen.
Gebückt trat er aus dem Haus. Aufrecht ging er an den Jungen vorüber. Die Kinder umringten ihn und grölten, aber er nahm es nicht mehr wahr.
Er schnitt eine Rose ab und wußte, daß sie ihm dahin, wo er jetzt hingehen würde, nicht folgen würden.
Der Weg zum Friedhof führte durch eine dunkle Allee, hier kam er auch an einem See vorbei. Ihr See. Hier waren sie früher so oft gerudert. Wie Johannes immer lachte, wenn er Angst vor dem Wasser hatte, wenn sie mitten auf dem See waren und das Ufer so fern schien.
„Nein, Johannes, nun habe ich keine Angst mehr vor dem Wasser. Soll ich es dir beweisen?"
Er sah dabei die Rose an und wußte, daß sie seine Worte dem Freund übermitteln würde.
Er ging die paar Schritte zum See. Schon waren seine Füße ganz durchnäßt. Warum nur lief er weiter? Warum nur blieb er nicht stehen?
Etwas zog ihn hinaus. Ins Wasser.
Aber noch einmal blieb er stehen. Er sah wieder die Rose an, streichelte sie zärtlich und flüsterte:
„Es war trotzdem schön. Es war doch schön. Nichts hätte anders sein sollen. Nichts!"
Er klammerte sich an einem Ast fest, der sich unter Wasser befand. In der Tiefe erblickte er einen dunkelroten Fleck. Er ließ den Ast los.
In diesem Moment packte Silvio ein starker Arm und zog ihn aus dem Wasser.
Sein Vater war ganz aufgeregt. Der Teddy - zum Glück hatte er auch den Teddy aus dem Schilf befreit. Glücklich hielt ihn Silvio in den Armen.
Er hörte wie der Vater schimpfte, wie er ihn ein ums andere Mal an sich preßte und etwas stammelte, was wie .Mein Gott, mein Gott" klang.
Und Silvios Vater konnte sich absolut nicht erklären wie sein dreijähriger Sohn darauf antworten konnte:
„Es war schön. Es war doch trotzdem schön."
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen