30.10.2011

A. Belyj und die Theosophie E. P. Blavatskajas

A. Belyj und die Theosophie E. P. Blavatskajas



A. Belyj und die Theosophie E. P. Blavatskajas.
Wirkung und polemische Auseinandersetzung im Roman "Moskva" (1926). *

In: Wiener Slavistisches Jahrbuch, Band 44 (1998), Wien 1998


Das Interesse Andrej Belyjs für die Anthroposophie Rudolf Steiners ist in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem Gegenstand literatur- und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden.

Weniger bekannt ist der Umstand, daß Andrej Belyj bevor er in den Jahren nach 1912 überzeugter Anthroposoph wurde, sich auf der Suche nach neuen Welterklärungsmodellen zuerst auch der Theosophie Elena Petrovna Blavatskajas zuwandte. Belyjs Auseinandersetzung mit der Theosophie wird vielfach in der Forschung als Episode abgetan, die keinerlei wichtige Spuren in seinem Schaffen hinterlassen hat. Es wird kaum reflektiert, daß Belyj seine schöpferischen Impulse auch aus der Kollision beider Richtungen (Anthroposophie und Theosophie) in seinem Denken bezog, die sich in seinen Werken besonders in dem ständig präsenten Konflikt zwischen Ost und West widerspiegelt.

Ziel der folgenden Untersuchung soll es sein, diese These anhand der Analyse von A. Belyjs Roman "Moskva" (1926) zu belegen. Vorher aber erscheint es notwendig, die aus seiner Biographie bekannten Beziehungen zur Theosophie kurz zu umreißen, sowie einige Erläuterungen der für die Darstellung notwendigen Komponenten des theosophischen Welterklärungsmodells zu geben.

Belyjs Interesse an der Theosophie Blavatskajas setzte bereits im Jahr 1896 ein. Aus seinen bisher teilweise veröffentlichten "Materialy dlja biografii (intimnyj)" und "Kasanija k teosofii" geht hervor, daß ihn zu dieser Zeit besonders Blavatskajas Reiseerzählungen "Iz peščer i debrej Indostana" (1883-1886) faszinierten. Im Jahr 1901 erhielt er dann neue Anregungen, die ihn dazu bewegten, sich mit Theosophie zu beschäftigen. Vermittelt wurden diese durch Pavel Nikolaevič Batjuškov, der zeitweise zusammen mit Belyj im "Kružok argonavtov" wirkte. Batjuškov blieb bis an sein Lebensende überzeugter Theosoph. Durch seine Bemühungen lernt Belyj dessen Cousine Anna Sergeevna Gončarova kennen. Gončarova war Gründerin des ersten theosophischen Zirkels in Moskau. Belyjs Begegnung mit ihr fällt ins Jahr 1901, als sie gerade von Paris nach Moskau zurückkehrte. In Frankreich war sie mit den Blavatskaja-Nachfolgern Annie Besant und Charles W. Leadbeater in engen Kontakt gekommen. Die von diesem Zusammentreffen für sie ausgegangene Faszination konnte sie zunächst auch auf A. Belyj übertragen. Er besuchte einige Zeit ihren Zirkel.

Von A. Belyj ist uns eine Bibliographie der Bücher überliefert, die er gelesen und für besonders wichtig erachtet hat. Sie umfaßt einen Zeitraum von 1896 bis 1913. Daraus wird deutlich, daß Belyj in den Jahren zwischen 1901 und 1905 die wichtigsten Werke der Blavatskaja gelesen, zumindest jedoch eingesehen hat.

Nach 1905 ließ Belyjs spezielles theosophisches Interesse nach. Im Jahr 1908 flammte es erneut auf: "Once again he picked up the books of Mrs. Besant, the Teosoficheskij vestnik, and other Theosophical materials; once again he participated in the Theosophical Circle of Kleopatra Petrovna Khristoforova, where he gave occasional presentations on Theosophical topics." (Carlson 1982: 202-203)

Über seine theosophischen Interessen wird Belyj dann mit den Arbeiten Rudolf Steiners bekannt, der seit dem Jahr 1902, als die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft gegründet wurde, bis zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1913 als deren Generalsekretär fungierte. In der Anthroposophie fand Belyj, was er an der Theosophie immer vermißt hatte: Orientierung am Christentum, die Heraushebung des Christus-Impulses als in der Gegenwart einzig mögliche höchste geistige Entwicklung. Hier wurde auch kritisiert, was er an der Theosophie als Schwachstelle empfand: Orientierung an östlichen Denk- und Religionssystemen.

Die Hinwendung Belyjs zur Anthroposophie impliziert aber gleichzeitig eine lebenslange Auseinandersetzung mit der Theosophie Blavatskajas, da das Schaffen seines Lehrers Steiner ebenfalls davon geprägt war. Viele seiner Werke verdanken diesem Spannungsverhältnis zwischen Theosophie und Anthroposophie, in welchem sich das Bewußtsein ihres Autors befand, ihre Ideen und Figurenkonstellationen.

Hinsichtlich der vorzunehmenden Definition von "Theosophie" als Welterklärungsmodell ist es in erster Linie notwendig darauf zu verweisen, daß hier nicht die traditionell unter diesem Begriff zusammengefaßte abendländisch-christliche Theosophie (= Gottesweisheit) gemeint ist. Bei dem System, um welches es in diesem Aufsatz gehen soll, handelt es sich um ein von der Russin E. P. Blavatskaja (1831-1891) vor allem in ihren beiden Hauptwerken "Isis Unveiled" (1877) und "The Secrete Doctrine" (1888) geschaffenes Welterklärungsmodell, das zwar durchaus bestimmte Parallelen zur traditionellen Theosophie aufweist, sich aber auch in grundsätzlichen Punkten davon unterscheidet.

Auf jeden Fall gehörte die Theosophie Blavatskajas zu den einflußreichsten okkulten Denksystemen im Rußland der Jahrhundertwende.

Philosophische Grundlage dieses Welterklärungsmodells ist ein radikaler Monismus, der davon ausgeht, daß die Wirklichkeit einheitlich und von einerlei Grundbeschaffenheit sei. Die Theosophie Blavatskajas ist in diesem Sinne besonders darauf ausgerichtet alle Gegensätze zu überwinden bzw. sie als zwei Seiten der im Grunde selben Erscheinung anzusehen.

Aus diesen Prämissen entwickelt Blavatskaja ihre ganz speziellen Vorstellungen von Evolution, die sich sowohl auf den gesamten Kosmos als auch auf den einzelnen Menschen beziehen. Für unseren Zusammenhang ist vor allem ihr Menschenbild wichtig, welches im folgenden kurz erläutert werden soll.

Laut Theosophie ist die menschliche Persönlichkeit aus 7 Prinzipien zusammengesetzt. Es gibt vier Prinzipien, die die sogenannte "niedere Natur" des Menschen bilden: 1.) physischer Körper (Sthula-Sarira); 2.) Astralkörper (Linga-Sarira); 3.) Lebenskraft oder Lebensleib (Prana oder Jiva): hält Astralkörper und physischen Körper zusammen 4.) die tierische Seele (Kama Rupa): Begierden, Instinkt, Leidenschaften, Triebe. Diese Prinzipien sollen laut theosophischer Vorstellung überwunden werden und im Laufe der Evolution ganz absterben. Dies ist allerdings in einem Erdenleben nicht zu realisieren, woraus die tief in der Theosophie verwurzelten Reinkarnationsvorstellungen resultieren. Ziel des menschlichen Lebens soll es nun sein, besonders die drei oberen Prinzipen zu entwickeln: 5.) Manas, 6.) Buddhi (Erkenntnis, Intuition, himmlische Seele) 7.) Atma (unsterblicher, göttlicher Geist, göttlicher Funke). Diese gehören der unsterblichen Natur an und ihre volle Entfaltung entspricht einer ständigen Annäherung an das wahre Selbst, das göttliche Ego des Menschen, welches mit den anderen göttlichen Egos zusammen gleich Strahlen einst aus dem göttlichen Urgrund, der Urflamme entsprang.

Das wahre Selbst des Menschen ist also ursprünglich göttlich, die menschliche Persönlichkeit aber wurde im Verlaufe der Evolution immer mehr in die Materie hineingezogen und befindet sich laut theosophischer Vorstellung zur Zeit auf ihrem tiefsten Punkt, weshalb die gegenwärtige Epoche der Menschheitsentwicklung auch als Kali Yuga (eisernes bzw. dunkles Zeitalter) bezeichnet wird. Der Mensch soll aus der Materie wieder aufsteigen, göttlich werden, sich mit seinem eigentlichen göttlichen Ego vereinen. Diese Transformation von der niederen zur höheren Natur des Menschen findet im Bereich des Manas statt. Es existiert ein niederes Manas, das der sterblichen Natur des Menschen angehört. Es ist gekennzeichnet durch eine rationale Wahrnehmung der Welt, die versucht, das Denken von der Intuition, dem Bereich der Erfahrung abzuschalten. Dem Verstand kommt es laut dieser Vorstellung vor allem darauf an, logische Zusammenhänge herzustellen, die nicht mit der wahren, oft versteckten Struktur des Seins korrelieren, da sie bestimmte andere Arten der Erkenntnis (z. B.: Erfahrung) ausschließen. Das höhere Manas entspricht der "wahren Einsicht" in die Natur der Dinge, verbindet verstandesmäßiges Analysieren mit Erleben und führt damit zu Weisheit.

Der Übergang vom niederen Manas zum höheren Manas kann sich nicht ohne weiteres vollziehen. Es bedarf dazu einer einschneidenden existentiellen Erfahrung, die Blavatskaja im Sinne antiker Mysterientradition als "Einweihung" bezeichnet.

Die Vorstellung vom Mysterienweg, den der Mensch durchschreiten muß, um die Einweihung als entscheidende Transformation zu erhalten, ist Bestandteil des theosophischen Welterklärungsmodells Blavatskajas und später auch des anthroposophischen Denkens Rudolf Steiners.

Ziel der Einweihung ist es dabei, dem Menschen zur Erkenntnis des "wahren Selbsts" zu verhelfen, was nach der Vorstellung von einer Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, zur Erkenntnis der wahren Beschaffenheit und Struktur der Welt führt. Die Einweihung wird traditionell mit Todes- und Auferstehungssymbolik verbunden. Der den Mysterienweg Beschreitende muß einen todesähnlichen Zustand durchlaufen, wobei dann quasi sein "wahres Selbst" in ihn hineingeboren wird. Einweihung kann nach theosophischer Vorstellung direkt im täglichen Leben stattfinden oder durch besondere Schulung erreicht werden. Die Transformation findet im Bereich der menschlichen Persönlichkeit laut Blavatskaja auf der Ebene des Manas statt.

Für das Verständnis meiner weiteren Argumentation ist es noch notwendig darauf zu verweisen, daß Blavatskaja vor allem östliche Denk- und Religionssysteme (Buddhismus, Hinduismus) favorisierte und daraus Grundbausteine für ihr eigenes Denkmodell extrahierte. Die Theosophie gilt als eine der Strömungen, die am entscheidensten zur Rezeption östlichen Gedankengutes im Europa der Jahrhundertwende beitrug. Mit der Theosophie verband sich deshalb in Teilen der russischen Intelligencija auch die Konzeption des sogenannten "Panmongolismus", der von einem breiten Angriff des Ostens auf Rußland ausging.

Im folgenden soll am Beispiel des in der Forschung bisher wenig beachteten Romans "Moskva" gezeigt werden, wie A. Belyj das theosophische Modell verwendet und es dabei gleichzeitig von anthroposophischen Positionen aus umdeutet.

Meines Erachtens nach kann man beide Teile von "Moskva" ("Moskovskij čudak" und "Moskva pod udarom") als einen letzten großen Versuch Belyjs sehen, sein theosophisches-anthroposophisches Weltbild in künstlerischer Form zu exemplifizieren.

Die Rezeption des Romans wird nicht nur von Anfang an durch die Fülle an Neologismen erschwert, die sich Belyj als eigene Sprache schuf, um das Unaussprechliche wenigstens in Rhythmus und Klang nacherlebbar zu machen. Besonders die Multidimensionalität des Romans ist es, die sich einer gewohnten Lektüre entgegenstellt.

Der Leser wird einerseits mit einer Vielzahl verschiedener Handlungslinien konfrontiert, die die Oberflächenstruktur des Romans organisieren. Hier wird der Weg des Professors Korobkin gezeichnet, der im Moskau vor der Revolution als berühmter Mathematiker von sich reden macht, und an dessen Erfindung, einer besonders für die Revolutionierung des militärischen Bereichs geeigneten Formel, ausländische Agenten, vor allem aber der Spekulant Mandro interessiert sind.

Da Korobkin nicht freiwillig zur Herausgabe der Formel zu bewegen ist, wird Mandro gewalttätig. Er brennt dem Professor ein Auge aus. Dennoch kann er der Erfindung nicht habhaft werden und stirbt nach drei Tagen im Gefängnis. Der Professor aber überlebt und wird in eine Irrenanstalt eingeliefert.

Einander überlagernde Handlungslinien berichten darüber hinaus vom revolutionären Untergrund, von Familienbeziehungen im Umkreis des Professors u. ä. Diese auf den ersten Blick scheinbar den Inhalt dominierende Ebene möchte ich im folgenden als Ebene des Sujets bezeichnen. Sie spiegelt die Oberfläche wider, hinter der sich ein anderer Konflikt, eine in anderen Dimensionen ablaufende Handlung vollzieht. Sie ist mit Belyjs theosophischen und anthroposophischen Überzeugungen verbunden.

Diese zweite Ebene des Romans möchte ich als anthropologisch-metaphysische Ebene bezeichnen. Sie spiegelt die sich entsprechend dem Mysterienweg entwickelnde menschliche Persönlichkeit wider. Korobkin symbolisiert dabei die Entwicklung des Menschen vom niederen tierischen Bereich zu seiner höheren Natur.

Belyj setzt voraus, daß der Leser, um diese Ebene zu verstehen, den Schlüssel theosophischen bzw. anthroposophischen Gedankengutes besitzen muß. Er legt nämlich dem Handlungsablauf des Romans, das von der Theosophie entwickelte, im anthroposophischen Sinn von Belyj gedeutete Schema der die menschliche Persönlichkeit zusammensetzenden Prinzipien zugrunde. Die dritte Dimension, auf welche die Handlung im Roman verweist, möchte ich als metaphysisch-kosmische Dimension bezeichnen. Diese Ebene spiegelt die Entwicklung Rußlands wider, die anhand der Evolution der Stadt "Moskau" fokusiert wird. Wie Korobkins alte Persönlichkeit gesprengt und umgebildet wird, genauso wird das alte Moskau gesprengt, um auf einer höheren Entwicklungsstufe wiedergeboren zu werden.

Die folgende Analyse bezieht sich vor allem auf die zweite, die anthropologisch-metaphysische Ebene. Vor allem soll der Mysterienweg Korobkins nachgezeichnet und sein Treffen mit Mandro als ein in ihm selbst, im Bereich des Manas angelegter Konflikt beschrieben werden. Ein weiterer Schwerpunkt der Betrachtung wird darin bestehen, den Mandro inspirierenden Dr. Donner als Projektion der Ängste Belyjs vor dem östliche Einflüsse forcierenden theosophischen Welterklärungsmodell darzustellen. Dabei soll die verbreitete Annahme widerlegt werden, es handele sich bei Dr. Donner um Dr. Steiner, mit dem Belyj hier in einer Zeit seines angeblichen Bruchs mit der Anthroposophie abrechnet.

Der Lebensweg des Professors Korobkin wird von Anfang an mit den für den Mysterienweg charakteristischen Symbolen belegt.

Im Kaukasus in einer Familie nicht begüterter Eltern geboren, muß Korobkin seinen Lebensunterhalt schon früh selbst verdienen. Er arbeitet deshalb als Küchenhilfe. Arbeit in der Küche mit Feuer, heißem Wasser, Dampf etc. deutet symbolisch auf die noch von Leidenschaften durchzogene niedere Natur des Menschen hin. Sie symbolisiert auch das Chaos, in welchem sich der nur auf seine Instinkte bzw. Gefühle verlassende Mensch befindet. Hier verweist es auch auf das völlige Gebundensein an den physischen Körper, da Küchenhilfe eine sehr schwere körperliche Arbeit ist. Doch erhält Korobkin schon bald einen Impuls, der ihn dazu anregt, dieses Leben zu verändern:

"Skazyvalas' besprosvetnaja zizn'; i ponjatno, čto Vanja (Korobkin - B. S.-D. ) prišel k ubezdeniju - nevnjatica zizni ego pobezdaema jasnost'ju lis' dokazuemych tezisov. Tak vot nauka rossijskaja obladalas' učenym." (Belyj 1989: 23)

In der inneren Gegenüberstellung von Chaos und Kosmos entscheidet er sich schließlich unwiderruflich für letzteren.

"... irracional'naja mutnost' pomojki i zapachi tusklych jajc ot protivnogo jasno dokazyvali racional'nost' abstraktnogo kosmosa ..." (Belyj 1989: 34)

Es wird allerdings akzentuiert, daß sich der Professor erst im Anfangsstadium der Überwindung der niederen Natur befindet, obwohl er eben dabei ist, das niedere Manas (rationalen Intellekt) zu entwickeln. Er kann sich noch immer nicht ganz vom Anblick schöner Damenbeine lösen, ist seelisch eng mit seinem Hund Tomik verbunden und kämpft gleich zu Beginn des Romans völlig hilflos mit einer ganzen Armee von Fliegen. Der Logos bringt aber immerhin bereits Ordnung ins Chaos. Dieser Zustand bedeutet allerdings Rationalität noch ohne Zugang zur göttlichen Weisheit. Korobkin glaubt mit dem Ausbilden des Verstandes bereits wahre Gotteserkenntnis erlangt zu haben. Andrej Belyjs Beschreibung des Weges, den der Professor gehen muß, entspricht dann schließlich aber einer Antithese zu dieser Annahme. Geist ist in theosophischer und anthroposophischer Vorstellung nicht mit Logik gleichzusetzen. Eine zutreffende Erklärung bietet Konrad Dietzfelbinger, der sich mit unterschiedlichen Mysterienschulen auseinandersetzt: "Es zeigt sich hier schon, daß für die Mysterienschulen ‚Geist‘ etwas anderes ist als der ‚Intellekt‘, das Gedankenleben des Menschen, das mehr oder weniger ‚geist‘-reich sein kann. Für sie ist der Geist, modern ausgedrückt, ein System unsichtbarer Kraftlinienstrukturen, die Zeit und Raum und die Wesen darin organisieren und bestrebt sind, sich in ihnen auszudrücken." (Dietzfelbinger 1997: 12) Die Kenntnis der Struktur dieser Kraftlinien ermöglicht entsprechend theosophischen und anthroposophischen Theorien die Einsicht in die wahre Beschaffenheit der Dinge und der Welt. Der rationale Verstand, der Intellekt reflektiert und produziert immer nur neue Illusionen über das Wesen der Dinge. Um die Wahrheit zu erkennen, muß die Welt der Illusion zerstört werden. Auf der Ebene der Persönlichkeit vollzieht sich dieser Erkenntnisprozeß durch Einsicht in das wahre Selbst des Menschen, denn: "Das wahre Selbst eines Menschen steht mit dem wahren Selbst, mit dem Geist aller anderen Menschen und mit dem Geist des Universums in Verbindung." (Dietzfelbinger 1997: 13) Nach theosophischer Vorstellung findet die Transformation des Menschen, die ihn befähigt, sein wahres Selbst zu erkennen, im 5. Prinzip der menschlichen Persönlichkeit, im Manas statt.

Der erste Impuls zur Transformation bei Korobkin erfolgt in dem Moment, als er erleben muß, daß seine Theorien nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dieses Ereignis ist für ihn von existentieller Bedeutung. Auf der Ebene des Sujets wird es von Belyj folgendermaßen gestaltet.

Nach einer Vorlesung begibt sich Professor Korobkin auf den Heimweg. Auf der Straße stößt er plötzlich auf ein schwarzes Quadrat. Dieses hält er für eine Tafel. Dadurch inspiriert beginnt er, mit Kreide eine ihm gerade in den Sinn gekommene neue Formel aufzuzeichnen. Das schwarze Quadrat allerdings entpuppt sich plötzlich als Kutsche, die sich in Bewegung setzt. Korobkin stürzt und schlägt sich den Kopf blutig.

Der bis dahin nur die Oberflächenstruktur des Daseins wahrnehmende Korobkin wird mit der Mehrdimensionalität der Welt konfrontiert, was durch den physischen Sturz ausgelöst eine Bewußtseinsänderung hervorruft und den Professor in den Zustand seiner beginnenden Transformation versetzt.

Ein weiterer Schritt, um den Zustand des höheren Manas zu erreichen und damit eine weitere Annäherung an das göttliche Selbst zu erhalten, ist auf dem Mysterienweg das endgültige Absterben aller niederen tierischen Instinkte und Leidenschaften. Auf der Ebene des Sujets wird dies von Belyj dadurch realisiert, daß er den Hund des Professors - Tomik - sterben läßt. Auch er wird von einer Kutsche zu Tode gebracht. Damit wird die Verbundenheit des Professors mit seinem Hund angedeutet. Aber auch vorher stellt der Autor immer wieder Ähnlichkeiten zwischen Korobkin und seinem Hund heraus. Tomik wird als Teil des Professors charakterisiert.

Die Persönlichkeit des Professors hat endgültig den Bereich des menschlichen Ego erreicht. Er befindet sich im Zustand des Übergangs vom niederen zum höheren Manas und damit zum unsterblichen Teil der menschlichen Persönlichkeit. Diese Wandlung allerdings kann sich nicht automatisch vollziehen. Da sich im Bereich des Manas niedere und höhere Natur des Menschen begegnen, kann es nicht ausbleiben, daß hier Kräfte und Spannungen auftreten, die eine ungeheure Sprengkraft entwickeln.

Der Zusammenstoß zwischen niederem und höherem Manas wird durch die Konfrontation Korobkins mit dem Spekulanten Mandro symbolisiert. Auf der Ebene des Sujets handelt es sich bei Mandro um einen erfolgreichen Bourgeois, der zugleich ausländischer Agent ist und mit allen Mitteln (Kauf, Gewalt) versucht, Korobkin seine wichtige Erfindung zu entreißen.

Auf der metaphysischen Ebene aber repräsentiert er einen Teil der Persönlichkeit des Professors, des niederen Manas, das noch mit den tierischen Begierden verbunden ist, ohne diese überwinden zu können. Mandro ist völlig ins niedere Selbst gerichtet.

Schon durch den Namen "Mandro" verweist Belyj auf dessen Zugehörigkeit zum Bereich des Manas. Belyj akzentuiert, daß man die "Wurzel", also den Wortstamm beachten müsse, um hinter Mandros Identität zu kommen. Korobkin aber kann den Wortstamm nicht richtig deuten und begreift deshalb erst sehr spät, wer ihn da in Gestalt es Mandro gegenübertritt:

"Kto‚ oni‘? Neuzeli - Androny, Mandrony, Mandry', Mandragory, Mordany? Ved' čuš'; v korne vzjat': s izvlečeniem kornej on ne spravilsja; čušistej pročego to, čto s usuiliem im izvlekaemyj koren' - Mandro. Nu, pri čem ze Mandro?" (Belyj 1989: 158)

Parallelen zwischen den Männern verdeutlichen Mandros Funktion als Teil bzw. Zwilling des Professors.

Beide Männer führen kein richtiges Eheleben. Mandros Frau ist gestorben, die Frau des Professors geht seit Jahren mit seinem Kollegen Zadopjatov fremd. Beide haben Töchter ungefähr im selben Alter und besitzen Haustiere - Korobkin einen Hund, Mandro eine Katze. Bei beiden decken sich der Vor- mit dem Vatersnamen: Ivan Ivanovič Korobkin und Eduard Eduardovič Mandro. Mandros Tochter möchte ihren Vater gern "brat Ivanuška" nennen, was dieser freilich ablehnt. Auch verbrachten beide ihre Jugend im Süden Rußlands. In der Szene der endgültigen Auseinandersetzung gibt Belyj den entscheidenden Hinweis darauf, daß es sich hier tatsächlich um zwei Seiten derselben Persönlichkeit handelt:

"Budto iz-pod zanaveski prosunulsja kto-to, znakomyj po bredam, - skazat':
‚A ja - zdes'; ja - prišel!‘
‚Pomniš', - ty ubezal: otdochnul bez menja; i - zabyl pro menja; i ja - zdal; a ja - znal, čto okončitsja vse.‘
‚Vot on - ja!‘“ (Belyj 1989: 339)

Auf der Ebene des Sujets vom Autor als Einzelperson konzipiert, befindet sich Mandro in seiner Persönlichkeitsentwicklung auch auf der Stufe eines stark entwickelten Intellekts. Er ist ein Verstandesmensch. Kommt es Korobkin darauf an, neue Formeln zu entwickeln, alles durch sie zu erklären, geht es Mandro vor allem darum, die richtigen Formen, d. h., die in gehobenen Kreisen üblichen Umgangsformen auszubilden. Immer wieder wird darauf aufmerksam gemacht, wie er versucht, der gesellschaftlichen Norm durch die rechte Form in Kleidung und Umgang zu entsprechen. Er inszeniert sich, übt sogar vor dem Spiegel die entsprechenden Gesten für bestimmte Zusammenkünfte mit unterschiedlichen Personen ein.

Letztendlich aber sind Mandros intellektuelle Energien immer auf den niederen Bereich gerichtet, auf die Stimulation seiner tierischen Instinkte. Er vergeht sich an kleinen Jungen und vergewaltigt schließlich sogar seine Tochter. Mehrmals wird beschrieben, wie ein dichtes Fell zum Vorschein kommt, das seinen ganzen Körper bedeckt, wenn er sich entkleidet. Auch das ihn umgebende Interieur seiner Wohnung strotzt von tierischer Symbolik: Löwentatzen an Tischen und Schränken, Leopardenfelle überall etc.

Mandros tierische Instinkte sind nicht transformierbar. Er hat im Gegensatz zu Korobkin nicht mit dem niederen Bereich gebrochen.

Auf der Ebene des Sujets läßt der Autor ein dreimaliges Zusammentreffen zwischen Mandro und Korobkin zustande kommen. Die ersten beiden Male ist Mandro bestrebt, durch Kauf und Drohungen die Erfindung des Professors zu erhalten. Aber dieser bleibt standhaft.

Schon glaubt er, Mandro sei aus Moskau verschwunden, und er könne frei aufatmen, als sich dieser in Gestalt eines alten Mannes in Korobkins Haus einschleicht, nun Gewalt anwendet, um der Erfindung habhaft werden zu können. Zuerst bedroht er ihn mit einem Hammer, schlägt ihn schließlich und bindet ihn am Sessel fest. Da dies alles nichts hilft, brennt er ihm mit einer Kerze ein Auge aus.

Doch leidet Mandro selbst unter dem, was er Korobkin antut.

Beide verlieren nach diesem Kampf den Verstand. Korobkin wird vom Autor nun als Idiot ("idiot") bezeichnet, Mandro als Verrückter ("sumasšedšij"). Letzterer wird auf der Flucht sofort gefaßt und stirbt nach drei Tagen im Gefängnis.

Auf der anthropologisch-metaphysischen Ebene aber kommt es während dieser letzten Auseinandersetzung zur endgültigen Transformation des Professors. Er erreicht einen höheren Bewußtseinszustand. Sein niederes Manas stirbt endgültig ab. Mit jedem Schlag, den das niedere Manas, dem höheren versetzt, wird es, da nur auf niedere, sterbliche Kräfte bauend, immer mehr geschwächt und letztendlich vernichtet.

Der Professor aber erfährt das Erwachen seines wahren Selbsts. Damit erreicht er einen Erkenntniszustand, der den Menschen seiner Zeit noch weit voraus ist:

"Ja pered vami: v verevkach; no ja - na svobode: ne vy; ja - v periode zizni; k kotoromu ljudi pridut, mozet byt', čerez tysjaču let; ja ottuda svjazal vas: lišil vas otkrytija; vy vozomnili; čto vlastny nad mysl'ju moeju; tupoe orudie zla; vy s otčajan'em b'etes' o telo moe; kak o dver' vyvodjaščuju: v dver' ne vojdete!" (Belyj 1989: 354)

Hier wird angedeutet, daß es sich bei der auf der Sujetebene als mathematische Formel ausgewiesenen Erfindung des Professors auf der metaphysischen Ebene um die Tür handelt, die zur Erkenntnis des wahren Selbst führt. Dem Selbst kann keine von außen auf den Körper einwirkende Kraft etwas anhaben: "Wie die Glut der glühenden Kugel unberührt bleibt von den Hammerschlägen des Schmiedes, die auf die Gestalt der Kugel treffen und sie verändern, treffen die Schläge des Lebens in Lust und Qual das Selbst ebensowenig." (Zimmer 1976: 179-180)

Korobkin wird auf der Sujetebene zum Idioten. Nicht umsonst verwendet der Autor hier gerade die Bezeichnung "Idiot", die an Dostoevskijs gleichnamigen Roman erinnert, wo die Hauptperson, sich den mit "Idiot" verbundenen Assoziationen entgegenstellend, als der eigentlich Weise im Geschehen auftritt. Auch Korobkin erreicht einen Bewußtseinszustand, den seine Mitmenschen als verrückt bezeichnen, da sie noch nicht in der Lage sind, sich zu seiner vertieften Einsicht zu erheben.

Das Auge wird von Belyj als zentrales Symbol ausgewählt. Der Professor wird einäugig. Nach theosophischer Vorstellung wohnt das Selbst, wenn der Mensch wach ist, in seinem Auge. Einäugigkeit bedeutet hier nicht Verlust eines Teils des wahren Selbsts, sondern seine Gewinnung. Die Dualität ist überwunden und wurde zur Einheit. Diese Einheit bedeutet Verbundenheit mit dem gesamten Universum.

Im Irrenhaus wird Korobkin in Zelle Nummer 7 untergebracht. Auch hier deutet die Zahlensymbolik wieder auf die sieben Prinzipien der menschlichen Persönlichkeit hin. Korobkin hat auf seinem Weg das siebente, höchste Prinzip "Atma" entwickelt. "Es ist der höchste Teil des Menschen: das Selbst, reines Bewußtsein an sich; die wesentliche und ursprüngliche Kraft oder Fähigkeit im Menschen, die ihm und jedem anderen Wesen oder Ding die Erkenntnis oder das wahrnehmende Bewußtsein der Selbstheit verleiht." (Purucker 1972: 20)

In diesem Bereich treffen im Roman metaphysisch-anthropologische und metaphysisch-kosmische Ebene aufeinander. Laut Vorstellung von einer Analogie zwischen Mikro- und Makrokosmos können entscheidende Veränderungen in einer menschlichen Persönlichkeit kosmische Veränderungen hervorrufen. Nach dieser These werden neue Zeitalter durch Auftreten bedeutender Persönlichkeiten eingeleitet, wie sie im Roman durch Korobkin verkörpert werden soll.

Belyj legt zwar das theosophische Schema der Entwicklung der sieben Prinzipien der menschlichen Persönlichkeit dem Romangeschehen zugrunde, deutet es allerdings im anthroposophischen Sinn um, womit auch seine Polemik mit der Theosophie einsetzt. Der Autor setzt die Erkenntnis des wahren Selbst mit der Erlangung des Christus-Impulses im Menschen gleich. Korobkins Weg wird an den entscheidenden Stellen von christlicher Symbolik bzw. biblischen Zitaten begleitet.

Neben der Umdeutung theosophischer Thesen im anthroposophischen Sinne beinhaltet "Moskva" aber auch Belyjs direkte und zielgerichtete Polemik mit der Theosophie Blavatskajas, mit der er vor allem zerstörerische Potenzen verbindet, die aus dem Osten kommen. Dies wird vor allem am Mythos des hinter Mandro als geistiger Stimulator stehenden Dr. Donner deutlich. "Donner" übernimmt der das Deutsche gut beherrschende Belyj aus dieser Sprache und provoziert damit bewußt die Assoziation eines zerstörerischen Gewitters.

Auf der Ebene des Sujets ist Donner derjenige, der Mandros Energie endgültig in die negative Richtung lenkt und zu dessen Transformation zum Verbrecher den entscheidenden Impuls gibt.

Es handelt sich bei Donner um einen deutschen Gelehrten, ansässig in München, der als Verfasser des Buches "Problem des Buddhismus" bekannt geworden ist. Er gilt darüber hinaus in Rom als "černyj papa" (Belyj 1989: 295). Der Autor kommentiert, daß es sich einem Mythos zufolge hierbei um den Führer des Jesuitenordens handeln soll. Donner behauptet gegenüber Mandro, er werde in Europa einen neuen Weltkrieg entfesseln. Mandro seinerseits wird von der Vorstellung überzeugt, daß sich der Erdball durch Gedankenkraft tatsächlich verändern läßt:

"Bezumie: v tysjača vosem'sot devjanosto vos'mom godu javno u vsech na glazach s ‚Kirchenštrasse‘ počtennyj buddolog vertel sud'boj mira, ne prjačas', ne prevoznosjasja." (Belyj 1989: 295)

Analysen des Romans zeigen, daß Wissenschaftler meist verwirrt sind von den zwei Aspekten, die die Tätigkeit Donners ausweisen: Buddhismus und Jesuitentum. Damit wird es für den mit anthroposophischen Konzeptionen nicht Vertrauten schwierig, Dr. Donner einen adäquaten Platz in der Analyse zuzuweisen, da sich die üblichen Muster traditioneller Geschichtsvorstellungen hier nicht anwenden lassen. Eine auf den ersten Blick akzeptable Lösung bot sich damit in einer Identifikation Dr. Donners mit Dr. Steiner an, da Nationalität und Doktortitel hier auf den ersten Blick Ähnlichkeiten suggerieren. Hinzu kommt, daß Belyj zu Beginn der 20er Jahre bei seinem letzten Deutschlandaufenthalt von einer gewissen kühlen Zurückhaltung Steiners ihm gegenüber enttäuscht war. Auch verblieb seine erste Frau Asja Turgeneva im Umkreis Steiners, anstatt, wie von Belyj erhofft, mit ihm nach Rußland zurückzukehren.

Dies führte F. C. Kozlik (Kozlik 1981: 808-811) zur These von der Identität Donners mit Steiner, die eine Zeit lang in der Literaturwissenschaft breite Resonanz fand. So wird im Nachwort zu den 1987 in deutsch erschienen Erinnerungen Belyjs an seinen Berlinaufenthalt folgendes festgestellt: "Wer immer Belyj in jenen Jahren - vor allem nach dem Bruch mit Asja Turgeneva und dem Bruch mit Rudolf Steiner, den er von nun an nur noch als Leibhaftigen oder "Dr. Donner" benennt - gesehen hat, hat ihn als fanatischen Tänzer gesehen." (Schlögel 1987: 116)

Dieser These zuzustimmen verbietet schon allein der Umstand, daß Belyj in seinen 1928/29 geschriebenen Erinnerungen "Vospominanija o R. štejnere", zu einer Zeit also in der auch sein Roman "Moskva" entstand, zwar einzelne Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft kritisiert, sich aber in keinem Fall von der Anthroposophie als solcher distanziert und Steiner nach wie vor als seinen geistigen Führer betrachtete.

Steiner hat sich, da ursprünglich aus der Theosophischen Gesellschaft hervorgegangen, natürlich auch mit östlichen Denken und Religionen, speziell auch mit dem Buddhismus auseinandergesetzt. Mit zunehmender Entwicklung seiner anthroposophischen Konzeptionen allerdings verstärkte sich seine ohnehin schon kritische Haltung dem Buddhismus gegenüber. Für ihn stellte dieser ein veraltetes Heilskonzept dar, das von dem sich im Westen entwickelnden Christus-Impuls schon längst überholt worden sei.

Von Belyj werden Dr. Donner zwei weitere Monographien "Wassubundu" und "Dignagy" zugeschrieben. Es handelt sich dabei mit großer Sicherheit um orthographisch nicht ganz exakt wiedergegebene Namen zweier östlicher Gelehrter: Dignaga und Vasubandhu aus dem 5. Jahrhundert, die völlig ohne jeden westlichen Bezug sind. Man kann davon ausgehen, daß es sich bei Dr. Donner auf keinen Fall um eine Beschreibung des Anthroposophen Steiner handelt, sondern um einen Träger östlicher, theosophischer Ideen und damit um einen Feind der Anthroposophie. Donner wird damit zu einem Vehikel der Auseinandersetzung Belyjs mit der Theosophie.

Die Vereinigung von asiatisch-buddhistischen und katholisch-jesuitischen Aspekten in der Gestalt des Dr. Donner dagegen entspricht der anthroposophischen Geschichtskonzeption Belyjs. Steiner nämlich sah in einer Verbindung von Katholizismus und Asiatentum die entscheidende Gefahr, die Osteuropa vom eigentlich richtigen anthroposophischen Weg abbringen könnte: "Und doch besteht für die tibetisch-indischen Eingeweihten eine Möglichkeit, ihrem Ziel, der geistigen Eroberung Osteuropas näherzukommen. Über diese Gefahr, die dann nicht mehr letzterem, sondern der gesamten Menschheit droht, sprach Rudolf Steiner im Jahr 1921. So wies er im Vortrag vom 5. Februar (GA 203) auf den Artikel ‚Die drei Welten‘ des Chinesen Hsi-Lung in der ‚katholisierenden‘ Zeitschrift ‚Hochland‘ als ein wichtiges Symptom hin. Gemeint sind: die Welt der westlichen materialistischen Zivilisation, die Welt der uralten asiatischen Geistigkeit und als dritte Welt, die allein die zwei ersten verbinden kann, die römisch-katholische Kirche und ihre kämpferische Avantgarde, der Jesuitenorden, auf deren unerschütterliche Autorität die Zukunft der europäischen Menschheit gegründet werden müßte." (Prokofieff 1989: 565-566) In einem anderen Vortrag vom 6. 2. 1921 führt Steiner aus: "Wenn die moderne Zivilisation nicht zur Geistigkeit kommt, dann werden Orientalismus und Römertum unbedingt die Welt überschwemmen." (Prokofieff 1989: 566) Dabei sah der Deutschland in den 20er Jahren besuchende Belyj Westeuropa bereits vom durch die Theosophie infiltrierten Asiatentum überschwemmt. So schreibt er generalisierend über die Deutschen in Berlin: "Oder er rennt in sein geliebtes ‚Patzenhofer‘, um nur einen einzigen Schoppen Bier zu trinken, wobei er das Bier in Portionen zerstückelt, zwischen die er eine ungeheure Menge ‚Schnäpse‘ einschiebt; gegen Ende seines Schoppens beginnt er zu predigen; nicht die Theorie des Dienstrechtes, sondern - zum Beispiel die Wahrheit der Veden, lädt Europa ein, Indien zu werden." (Belyj 1987: 36)

Theosophie sah in den Ideen der "alten Welt" die Zukunft. Genau hier setzt Belyjs Kritik ein, da sich Europa seiner Meinung nach unter theosophischen Einfluß eben dieser alten Welt zuzuwenden droht: "Das ‚Neue‘ - gibt es; doch nicht in den Schaufenstern der Buchläden werden Sie dieses Neue entdecken. Im Gegenteil, die Schaufenster sind voll von Altem: dort werden Sie Indien, Ägypten, China finden: Sie werden eine Reihe von Titeln antreffen, die den alten Kunstdenkmälern gewidmet sind, werden Bücher über den Buddhismus sehen, Literatur zum Neobuddhismus, die Werke des Grafen Keyserling kunterbunt neben extravaganten Werken der Expressionisten und Dadaisten." (Belyj 1987: 46-47) Die Theosophie Blavatskajas bezeichnete der von Belyj sehr verehrte Philosoph Vladimir Solov'ev als erster in einem Artikel als Neobuddhismus. Später setzte sich dieser Name für Theosophie bei den ihr gegenüber kritisch eingestellten Vertretern der russischen Intelligencija durch.

In seinen Erinnerungen an Berlin sieht Belyj selbst die deutsche Philosophie in den Dienst der Ausbreitung des Asiatentums gestellt: "... diese Propagierung der Ideologie des Unbewußten, des ‚Nichts‘ ging einher mit der Entwicklung des Orients in Europa: der Orient fand seinen Niederschlag in orientalischen Moden und der Exotik." (Belyj 1987: 53) Hier sieht Belyj die Gründe für die Zerstörung der europäischen Kultur und prognostiziert einen weiteren Weltkrieg.

Ich denke, man kann von diesen Überlegungen ausgehend in Dr. Donner einen Fokus der Abrechnung Belyjs mit dem östlichen Einfluß und damit im Prinzip mit der Theosophie Blavatskajas sehen, war sie es doch, die als erste neue religiöse Strömung so nachhaltig am Osten orientiert war und diese Orientierung bei Vertretern des russischen Geisteslebens zu verbreiten wußte.

Belyjs in seinem Roman "Moskva" exemplifizierte Geschichtskonzeption läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Europa ist der Zerstörung geweiht. Rußland aber erwacht und wird zu einem höheren Bewußtseinszustand transformiert. Rußland beschreitet den Mysterienweg und wird nach einer Phase der Konfrontation mit Tod und Zerstörung neuer geistiger Führer der Menschheit werden. Dies entspricht auch Steiners Überlegungen in Bezug auf Rußland, der hier die Geburtsstätte der neuen Menschheit sah.

Die Auseinandersetzung mit der Theosophie Blavatskajas wurde für A. Belyj zu einer grundlegenden Anregung bei Konzipierung und Ausführung wichtiger Schlüsselstellen nicht nur seines Romans "Moskva", sondern auch weiterer seiner Werke. Diese Beziehungen aufzudecken kann zu einem tieferen Verständnis des Belyjschen Œuvre beitragen.


* Die Erarbeitung der vorliegenden Publikation wurde ermöglicht durch die Förderung der Volkswagen-Stiftung.


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