Die Polemik mit der Theosophie Blavatskajas
Die Polemik mit der Theosophie Blavatskajas als Vehikel der Auseinandersetzung mit dem Osten im Rußland der Jahrhundertwende. *
In: Osteuropäische Lektüren. Beiträge zur 2. Tagung des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft, Berlin 1998.
In: Berliner Slawistische Arbeiten, Bd. 10, Frankfurt a. M. 2000
Das Thema Rußland zwischen Ost und West ist schon längst zu einem festen Bestandteil der Betrachtung russischer Kulturgeschichte geworden. Meistens aber ist man von slawistischer Seite aus doch eher geneigt, den Blick auf die westliche Komponente zu richten, was sicher dem Umstand geschuldet ist, daß der westeuropäische Slawist mit dieser Perspektive auch ein Stück der eigenen Identitätsfindung bewältigt.
Das führte dazu, daß man den geistigen Einfluß des Ostens auf Rußland inzwischen als für das russische Geistesleben gleich welcher Epoche als relativ irrelevant ansieht. Welterklärungsmodelle, die als Transformator östlicher Philosophien und Religionen nach Rußland fungierten, gerieten nicht zuletzt auch deswegen in Vergessenheit. So wird auch gegenwärtig in der Forschung die aus der Theosophie Blavatskajas hervorgegangene Anthroposophie Steiners, der auf dem theosophischen Modell aufbauend quasi dessen westliches Pendant schuf, favorisiert. Theosophische Spuren im Schaffen verschiedener Autoren werden nicht nur ignoriert, sondern teilweise sogar vehement bestritten. Dabei war die Theosophie Blavatskajas zum Jahrhundertbeginn in Rußland bei bestimmten Kreisen der Intelligencija genauso populär wie später die Anthroposophie Steiners.
Insgesamt stand das Östliche (vor allem China, Tibet, Indien, Japan) am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Rußland hoch im Kurs. Meist erklärt man sich diesen Umstand mit einem plötzlich aufflammenden Interesse an Exotik, das bei einzelnen Autoren von dem Bedürfnis motiviert gewesen sei literarische Grenzen zu überschreiten und dies nicht nur in stilistischer, sondern auch und gerade in thematischer Hinsicht. Auch der Umstand, daß Japan begann zu einem ernstzunehmenden Wirtschaftsfaktor zu werden, wird als Erklärungsoption herangezogen.
Sicher haben auch diese Faktoren eine Rolle gespielt.
Aber es waren auch und vor allem okkulte bzw. esoterische Bewegungen und hier vor allem die Theosophie Blavatskajas, die als Katalysator fungierten und östliches Gedankengut nach Rußland transportierten. Sie wurde nicht zuletzt oft ein Vehikel für die Auseinandersetzung mit dem Osten im Rußland der Jahrhundertwende. Man projizierte eine bestimmte Kritik auf den Osten, die ursprünglich der Theosophischen Gesellschaft galt und schrieb damit auch ein ganzes Arsenal an Stereotypen über den Osten fest, die diesem eigentlich nicht gerecht werden. Es wurde dadurch eine bestimmte Haltung motiviert, die teilweise sehr negative Potenzen in der östlichen Kultur erblickte und auch zur Begründung eines gewissen Kulturimperialismus in Bezug auf den Osten beitrug.
Bevor am Beispiel eines konkreten Autors (Andrej Belyj) diese These illustriert werden soll, will ich die Theosophie als Welterklärungsmodell kurz vorstellen, ohne dies an dieser Stelle mit der notwendigen Ausführlichkeit tun zu können.
Es ist zuerst notwendig speziell darauf zu verweisen, daß es hier nicht um die traditionell unter dem Begriff Theosophie zusammengefaßte abendländisch-christliche Theosophie (= Gottesweisheit) geht. Bei dem zu betrachtenden System handelt es sich um ein von der Russin E. P. Blavatskaja (1831-1891) vor allem in ihren beiden Hauptwerken Isis Unveiled (1877) und The Secrete Doctrine (1888) geschaffenes Welterklärungsmodell, das auf einem radikalen Monismus als philosophischer Grundlage aufbaut. Dieser geht davon aus, daß die Wirklichkeit einheitlich und von einerlei Grundbeschaffenheit sei. Die Theosophie Blavatskajas ist in diesem Sinne besonders darauf ausgerichtet, alle Gegensätze zu überwinden, bzw. sie als zwei Seiten der im Grunde selben Erscheinung anzusehen. So werden Differenzen, zum Beispiel zwischen Leib und Seele, Gut und Böse, Stoff und Geist oder auch Welt und Gott durch die Vorstellung eines einzigen Prinzips der Wirklichkeit relativiert, ihre gegenseitige Bedingtheit hervorgehoben. Auf diesen Ideen wird die theosophische These aufgebaut, daß in allen Religionen und Mythen der Völker der Welt und aller Zeiten jeweils ein innerer Wahrheitskern verborgen sei, der mit allen anderen übereinstimme. Blavatskajas Theosophie propagiert nicht nur die Verbundenheit aller Menschen miteinander, sondern auch der Menschen mit allen anderen Lebewesen, sowie der Tier- und Pflanzenwelt. Dies mündet in eine abgewandelte Form der im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der russischen Philosophie (z. B.: Vladimir Solov'ev) populären Vorstellung von der All-Einheit. Aus ihren Ausgangsthesen entwickelte Blavatskaja ganz spezielle Vorstellungen von Evolution, Kosmogonie und Anthropogonie.
Die Quellen, aus denen die Theosophie für ihre Thesen schöpfte, sind dabei vielfältig und unterschiedlich: Neben dem Neuplatonismus standen Kabbala, Gnosis, Hinduismus, Buddhismus, Überlieferungen antiker Mysterienkulte, Pythagoreismus und französischer Okkultismus Pate, wobei den östlichen Denksystemen eine zentrale Stellung zukommt. Um den anfänglichen Eklektizismus ihres Systems zu überwinden, boten sich für Blavatskaja gerade die Ideen östlicher Provenienz als Integrator an. Die Theosophie war eine der modernen Geistesrichtungen im Rußland der Jahrhundertwende, die auch zu einer Polarisierung der russischen Intelligencija beitrug. Es entwickelte sich ein lebhaftes Pro und Contra in Bezug auf die Theosophie, wobei die nach 1913 in Rußland stürmisch rezipierte Anthroposophie zu einer weiteren Aufspaltung der Positionen führte.
Grundsätzlich positiv auf die Theosophie reagierten der Symbolist Konstantin Bal'mont, der Maler und Dichter Nikolaj Rerich, der Übersetzer Konstantin Batjuškov und die Schriftstellerin Vera Kryžanovskaja. In eine polemische Auseinandersetzung trat bereits im 19. Jahrhundert der Philosoph Vladimir Solov'ev, der einige Rezensionen zu Blavatskajas Werken verfaßte. Ich konnte nachweisen, daß der in seinem Povest' ob Antichriste (1899) dem Antichristen zur Seite gestellte Magier Apollonius in großem Maße eine Persiflage auf Blavatskaja und deren Theosophie darstellt. In der Nachfolge Solov'evs verband sich deshalb auch in Teilen der russischen Intelligencija mit der Theosophie Blavatskajas die Konzeption vom sogenannten Panmongolismus, der von einem breiten Angriff des Ostens auf Rußland ausging.
Eine Polemik mit der Theosophie entwickelten auch Maximilian Vološin, Lev Kobylinskij-Ellis und Andrej Belyj, die vor allem nach ihrem Übergang zur Anthroposophie die Steinerschen Positionen nutzten, um sich mit der Theosophie auseinanderzusetzen. Die anthroposophische Kritik an der Theosophie wurde damit zu einem wichtigen Prisma, durch das deren Thesen im Rußland der Jahrhundertwende gebrochen und später auch noch rezipiert wurden. Dies führte zum Beispiel dazu, daß man die Theosophie in verschiedenen Kreisen der russischen Gesellschaft mit östlichen Geheimsekten identifizierte. So schreibt der russische Anthroposoph Sergej Prokofieff auch heute noch folgendes:
Andererseits hatte die Tatsache, daß H. P. Blavatskij unter den Einfluß östlicher Okkultisten mit ihren indisch-tibetanischen Gruppeninteressen geriet, unweigerlich eine ganze Reihe negativer Folgen, deren okkulte Bedeutung und geistige Grundlagen Rudolf Steiner erst viel später, nach der Trennung von der Theosophischen Gesellschaft den Anthroposophen darlegen konnte.
Besonderes Gewicht legte Steiner immer wieder auf die angeblich eindeutigen antichristlichen Tendenzen der theosophischen Lehre. Laut Steiner können die östlichen Lehrer [...] eine Hoffnung auf Erfolg in der Evolution [...] nur haben, wenn sie das Christus-Prinzip aus der westlichen Kultur vertilgten. Dies wäre aber identisch mit dem Auslöschen des eigentlichen Sinnes der Erde, der in der Erkenntnis und Realisierung der Intentionen des lebendigen Christus liegt.
Die Richtung, in welche diese These zielte, wurde dann später vor allem von der nicht-wissenschaftlichen Publizistik aufgegriffen, die Theosophie nun teilweise in einem Atemzug mit verschiedenen Satanskulten nannte.
Ein russischer Autor der Jahrhundertwende polemisiert besonders deutlich von anthroposophischen Positionen aus mit der Theosophie - A. Belyj. Diese Polemik blieb ein Leben lang integraler Bestandteil seines Schaffens. In der Forschung wird seine Beschäftigung mit der Theosophie Blavatskajas allerdings meist als Episode abgetan. Meine Untersuchungen ergaben ein etwas anderes Bild. Gerade aus der Kollision beider Richtungen (Theosophie und Anthroposophie) im Denken Belyjs ergab sich ein Spannungsverhältnis, dem viele seiner Werke ihre Figurenkonstellationen verdanken, so zum Beispiel auch im Roman Peterburg (1913).
Ich möchte noch begründen, warum diese Auseinandersetzung mit der Theosophie im Bewußtsein Belyjs stattfinden mußte, daß sie kein Zufall war, sondern aus Belyjs okkultem Denken resultierte. Trotz aller Rationalisierungsbestrebungen und langjähriger Anhängerschaft an die deutsche idealistische Philosophie kann man davon ausgehen, daß Belyjs Weltanschauung auch von für okkulte Systeme charakteristischen Elementen gekennzeichnet war. Dies beweist die zunehmende Publikation seiner bisher in Archiven verborgenen Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Werkentwürfe.
Okkulte Weltmodelle unterscheiden sich von den sich in der Tradition westeuropäischen Denkens bewegenden Systemen oft gravierend. Daraus resultiert auch die Schwierigkeit des Umgangs mit ihnen.
Eine Spezifik dieser Modelle besteht darin, daß es sich hierbei nicht einfach um Weltanschauungen handelt, die man nach Belieben wechseln kann. Ein okkultes Welterklärungsmodell ähnelt in einigen Punkten einem Glaubenssystem, das aber nicht etwa nur die sporadische Befolgung bestimmter Riten und Dogmen voraussetzt, sondern erwartet, daß der betroffene Adept sein gesamtes Leben nach dessen Grundlagen ausrichtet. Dies geschieht nicht vor allem aus Angst vor Strafe, sondern in der Überzeugung, daß sonst das gesamte Modell für den jeweils daran Gebundenen seine Bedeutung verliert, da es ohne Befolgung gewisser Grundsätze für die betreffende Person in ihrem Verständnis einfach aufhören muß zu funktionieren.
Es handelt sich also bei einem solchen Modell im Grunde genommen nicht nur um eine Lebensdeutung, sondern um eine Lebensweise. Damit korreliert diese Vorstellung mit dem, was Belyj unter Symbolismus verstand, nämlich nicht nur ein Schaffen von Texten, sondern eine Schöpfung des eigenen Ich. Leben und Kunst sollten in Einklang gebracht werden.
Die sich okkulten Welterklärungsmodellen verschreibende Person begibt sich, wenn sie sie ernst nimmt, und das tat Belyj zweifellos, in ein System, welches nicht nur vom rationalen Verstand sondern vom gesamten Ich erfaßt werden muß. Damit fällt die Freiheit des rationalen Reflektierens und beliebigen Wechselns von einem System ins andere sowie die Möglichkeit eines rein operativen Anspruchs an dieses weg.
Wer von einem okkulten System in ein anderes wechselt, tut das nicht, weil er davon ausgeht, das andere Modell funktioniere nicht, sondern weil er annimmt, daß das Verbleiben in dem bisherigen Glaubens- und Erkenntniszusammenhang für seine eigene Person, sein Ich negative Folgen haben könnte. So gibt es Vorstellungen, man häufe zum Beispiel bei der Beteiligung an sich explizit schwarzmagisch betätigenden Zirkeln ein negatives Karma (= Schicksal) an. Für den Okkultisten, ganz gleich von welchem okkulten Modell er ausgeht, steht außer Zweifel, daß die anderen Modelle auch funktionieren. Es kommt nur darauf an wie sie funktionieren und wie sie sich dabei auf die Entwicklung seines eigenen Ich auswirken.
Gerade bei einem Wechsel von einem okkulten Modell in ein anderes, ist es für die betreffende Person unabdingbar, einen Begründungszusammenhang zu schaffen, wobei erklärt wird, warum dieser Wechsel vorgenommen wird, um zum Beispiel der Strafe durch verschiedene magische Angriffe seitens der Abgelehnten zu entgehen.
Rudolf Steiner, der selbst, bevor er die Anthroposophische Gesellschaft gründete, die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft leitete, mußte sich deshalb auch ein Leben lang immer wieder mit der Theosophie auseinandersetzen. Zwar hatte bei A. Belyj keine allzu tiefe Verwurzelung in der Theosophie Blavatskajas stattgefunden, aber sie bedeutete für ihn einen ersten Schritt hinaus aus traditionellen Welterklärungsmodellen und er selbst interessierte sich in bestimmten frühen Schaffensphasen sehr intensiv für den Buddhismus und das damit im Zusammenhang stehende östliche Denken. Belyj folgte seinem Lehrer Steiner bei dessen Auseinandersetzung mit der Theosophischen Gesellschaft um so mehr, da er ja in etwa einen vergleichbaren Wechsel wie dieser hinter sich hatte und ihn dadurch das Bewußtsein einer Art Kongenialität zu Steiner, auf die er viel Wert legte, gegeben war.
Die Auseinandersetzung mit der Theosophie Blavatskajas, vor allem als Repräsentantin östlicher Kräfte blieb für ihn in einigen Werken Mittel zur Begründung seiner eigenen anthroposophischen Position.
Im folgenden soll auf den Roman Peterburg eingegangen werden. Dabei möchte ich eine Figur in den Mittelpunkt stellen, die bisher in der Forschung vor allem einen zweitrangigen Stellenwert zugewiesen bekommt - Sofija Petrovna Lichutina. Ihre Bedeutung für die Gesamtkonzeption des Romans aber erschließt sich unter Beachtung des Umstandes, daß Belyj hier seine Auseinandersetzung mit der Theosophie fokussiert.
In der Forschung wurde die These aufgestellt, daß Belyj in der zerbrochenen Beziehung zwischen dem Haupthelden des Romans Nikolaj Apollonovič Ableuchov und Sofija Petrovna Lichutina eigentlich habe seine eigene gescheiterte Liebe zu Lidija Blok darstellen wollen. Man kann sicher davon ausgehen, daß Belyj grundsätzlich für seine Romane persönliche Erlebnisse als Stimuli nutzt. Doch gibt sich der Autor letztendlich nicht damit zufrieden. Belyj interessiert vielmehr das hinter den persönlichen Erfahrungen stehende kosmische Drama, welches nach der Konzeption von einer Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos eine zweite Bedeutungsebene generiert, die über die Sujetebene weit hinausreicht.
Sofija Petrovna Lichutina ist die im Roman auf der Sujetebene sich am offensten zum Östlichen bekennende Figur. Ihre Wohnung ist völlig im japanischen Stil eingerichtet, sie selbst trägt zu Hause immer einen rosa Kimono, liest Reisebeschreibungen aus dem Osten, kauft japanische Bilder.
Sofija Petrovna hat in ihrem Haus einen Salon gegründet, den Personen unterschiedlicher Couleur besuchen und engagiert sich für soziale Belange. Nachdem ihre Beziehung zu Nikolaj Apollonovič Ableuchov scheiterte, beginnt sie, sich einem spiritistischen Zirkel anzuschließen und Werke der Blavatskaja-Nachfolgerin Annie Besant zu rezipieren, ohne aber wie vom Autor akzentuiert, deren Inhalt voll zu erfassen. Die Verbindung von sozialen und spiritistischen Interessen entspricht dabei sogar dem Werdegang Besants selbst, die sich zuerst in der Arbeiterbewegung und später in der Theosophischen Gesellschaft engagierte. Auch verweist diese Position erneut auf die anthroposophische Perspektive, die sozialistische und theosophische Bestrebungen gern zu einem Ganzen verband.
In gewisser Weise projiziert Belyj sogar äußerliche Merkmale Blavatskajas auf Sofija Petrovna, deren Vatersname Petrovna mit dem der Blavatskaja übereinstimmt. Blavatskaja wird als sehr dick beschrieben, was vor allem von ihren männlichen Kontrahenten, wie dem Schriftsteller Vsevolod Solov'ev (Bruder des Philosophen) immer wieder hervorgehoben wird. Sofija Petrovna ist ebenfalls für ihr Alter viel zu füllig. Immer wieder werden vom Autor die großen blauen Augen Sofija Petrovnas hervorgehoben. Dies entspricht wiederum dem, was Vsevolod Solov'ev in seiner damals in Rußland populären Blavatskaja-Biographie an ihr als einzig positives Körpermerkmal wahrnimmt.
Sofija Petrovna ist mit einem Offizier verheiratet. Blavatskaja verbrachte ihr Leben seit der Gründung der Theosophischen Gesellschaft mit dem amerikanischen Oberst Henry Steel Olcott. Blavatskaja wurde bald in der Öffentlichkeit, vor allem um ihre Werke ins Lächerliche zu ziehen, als Madame Blavatsky bezeichnet. Ähnlich ironisiert Belyj über Sofija Lichutina:
Ах, София Петровна, София Петровна! Одним словом: дама [...] А от дамы что спрашивать! [orig. kyrill.]
Auf die Theosophie deuten noch weitere Merkmale aus der Umgebung Sofija Petrovnas hin.
Es wird akzentuiert, daß es in ihrer Wohnung immer furchtbar warm sei und alle - Gastgeber wie Gäste - nach kürzester Zeit mit Schweiß bedeckt seien. Sie selbst neigt überhaupt dazu, leicht rot zu werden, ihr Kimono ist von rosa Farbe. Feuer ist in der Theosophie das zentrale Element und Nikolaj und Elena Rerich haben später darauf ihre Theosophie vom sogenannten Agni-Joga (Feuer-Joga) aufgebaut.
Dies waren einige Indizien für die These, daß A. Belyj in Sofija Petrovna eine Persiflage auf eine Theosophin schafft.
Wichtiger aber noch ist ihre Funktionalität im Roman. Die auf der Sujetebene als eben nur etwas exzentrisch konzipierte Figur, setzt auf der metaphysisch-kosmologischen Ebene die im Roman stattfindende russische Apokalypse entscheidend mit in Bewegung. Dazu ist sie in der Lage, weil sie vom Autor als Medium konzipiert wurde. Medien werden traditionell die Fähigkeit zugeschrieben, eine Beziehung zwischen der sichtbaren diesseitigen und unsichtbaren jenseitigen Welt herstellen zu können. Sie sind damit Schaltstellen, die durch Auffangen von Befehlen aus der anderen Welt, Ereignisse in dieser Welt in Bewegung setzen können. Eben als solche Medien galten Blavatskaja und auch andere weibliche Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft, da man die medialen Fähigkeiten traditionell vor allem Frauen zuschreibt. Sofija Petrovnas Salon fungiert in diesem Zusammenhang als Sammelbecken, in dem gleich einem Mikrokosmos, der gesamte Makrokosmos Peterburgs vertreten ist.
Die von Sofija Petrovna ausgehenden Handlungsimpulse werden ihr selbst, wie für ein Medium typisch, gar nicht recht bewußt. Unbewußt wird sie zu einem Hauptstimuli der im Roman sich abspielenden russischen Apokalypse.
Wegen ihr verwandelt sich Nikolaj Apollonovič in den roten Domino. Die von Rachsucht getriebene Sofija Petrovna ahnt die gesamte Tragweite der Domino-Erscheinung in Peterburg nicht, sie ahnt nicht, daß sie dazu beiträgt, die Grundfesten der bisher relativ fest gefügten Ordnung in der Stadt zu erschüttern. Es ist ebenfalls Sofija Petrovna, die dem Journalisten vom roten Domino berichtet, der ihn daraufhin erst so richtig populär macht und ihn damit in der Phantasie der Bewohner Peterburgs zu einer echten Bedrohung anwachsen läßt. Sofija Petrovna fungiert auch als Überbringerin des schicksalhaften Zettels, der Nikolaj Apollonovič auffordert, den eigenen Vater zu töten. Dies zieht im Roman eine ganze Reihe wichtiger Ereignisse nach sich: den Mord am Revolutionär Lippančenko, den Wahnsinn Dudkins, den Ruhestand Apollon Apollonoviès und schließlich den Fortgang Nikolaj Apollonovičs aus Rußland. Die Ordnung verwandelt sich in ein Chaos. Das Rot der wehenden Fahnen, das im Roman mit dem roten Domino korreliert und, dessen Auftreten zum Ende des Romans immer häufiger wird, assoziiert den drohenden Untergang.
Bevor Lichutina schließlich mit Hilfe ihres Ehemannes eine seelische Läuterung erfährt, ist es ihr nur möglich, Negatives zu sehen, bzw. dieses selbst zu produzieren, was darauf hindeutet, daß sie sich in den Fängen teuflischer Mächte befindet.
So stellt sie zum Beispiel fest, daß die ihr nach dem Maskenball in die Kutsche helfende Christus-Erscheinung sich in einen Feuerwehrmann verwandelt, der eine Fackel in der Hand hält und damit das typische Erscheinungsbild des Antichristen in Belyjs Vorstellung verkörpert.
Eben diese negativen Potenzen sieht Belyj in der Theosophie.
Sofija kann während der Zeit ihrer östlichen Medienhaftigkeit letztendlich nur Negatives produzieren.
Belyj betrachtete die Theosophische Gesellschaft als Transformator östlicher Ideen nach Rußland, die einen breiten Angriff des Ostens auf den Westen vorwegnehmen. Dies wiederum entspricht zum Beispiel genau der Konzeption, die auch der von Belyj verehrte Vladimir Solov'ev von der Theosophie hatte:
Мы уверены, что движение представляемое мнимыми теософами, есть лишь предвестие более важных явлений [ ...] Блаватская с её американскими друзьями были лишь орудием, а не инициаторами этого движения. [orig. kyrill.]
Chaos, Zerstörung, geistige Stagnation und Perspektivlosigkeit, das ist es, was Belyj aus dem Osten erwartet und was er in seiner polemischen Auseinandersetzung mit der Theosophie auf den Osten projiziert. Diese nicht nur von Belyj vertretenen Thesen im Rußland der Jahrhundertwende trugen auch zu einer Neuauflage des Mythos von der gelben Gefahr bei, die Rußland und Europa bedroht und der im Osten nur das Wirken destruktiver Kräfte und eine der modernen Zivilisation entgegengesetzte Gesellschaftsordnung sah. Es handelt sich dabei um einen Mythos, der auch hin und wieder nicht nur von der russischen modernen Publizistik wiederbelebt wird.
Das Wissen aber darum, daß zum Beispiel im Rußland der Jahrhundertwende das Bild vom Osten geprägt war von der geistigen Auseinandersetzung mit bestimmten in Westeuropa beheimateten Strömungen, die östliches Gedankengut zwar nutzten, daraus aber autonome Systeme konstruierten, könnten m. E. die Gründe für diese Mythenbildung evidenter machen und zu deren Destruktion beitragen.
* Die Erarbeitung der vorliegenden Publikation wurde ermöglicht durch die Förderung der Volkswagen-Stiftung.
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