30.10.2011

Erzählungen und Reiseberichte 4

E. P. Blavatskaja - Erzählungen und ReiseberichteE. P. Blavatskaja - Erzählungen und Reiseberichte
Das literarische Schaffen E. P. Blavatskajas



E. P. Blavatskaja - Erzählungen und Reiseberichte.

In: FrauenLiteratur-Geschichte, Band 10. Verlag F. K. Göpfert, Fichtenwalde 1999



Inhalt:




III.2.: Das literarische Schaffen E. P. Blavatskajas

Ein erstes Zeugnis literarischer Versuche Blavatskajas repräsentieren ihre beiden Gedichte "Naem guvernantki" ("Die Anstellung einer Gouvernante") und "Svetskaja ženščina" ("Eine Frau von Welt"). Später widmet sie sich vorrangig in ihren Schriften der philosophischen Begründung ihrer theosophischen Lehre und weniger der Belletristik. Konzentration auf literarische Prosa findet sich relativ spät in ihrer Biographie.

Warum sie sich schließlich verstärkt diesem Genre widmete, ist heute nur noch schwer zu eruieren. Vielleicht wollte sie doch noch die von ihrer Mutter Elena Gan begründete Tradition der Schriftstellerei fortsetzen (ihre Schwester Vera P. Želichovskaja verfaßte vor allem Kinderliteratur). Allerdings könnte man auch annehmen, daß sie auf diese Weise hoffte, ihre theosophischen Grundideen noch einmal für ein breiteres Publikum illustrieren zu können.

Zwischen 1881 und 1886 entstehen ihre Reiseberichte "Durbar v Lachore" ("Durbar in Lahore"), "Iz peščer i debrej Indostana" ("Aus den Höhlen und Dschungeln Hindostans") und "Zagadočnye plemena na golubych gorach" ("Rätselhafte Volksstämme auf den "Blauen Bergen"), die bei einem an Exotik interessierten russischen Publikum auf ein breites Interesse stießen und auch dazu beitrugen, die Theosophie in Rußland wieder in den Blickpunkt der Betrachtung zu rücken.

Zu den bekanntesten Erzählungen Blavatskajas gehören: "The Luminous Shield" ("Der glänzende Schild"), "The Caves of the Echoes" ("Die Höhle des langen Echos"), "The Ensouled Violin" ("Die lebendige Geige"), "Zakoldovannaja žizn'" ("Das verzauberte Leben"), "From the polar lands" (" Im Norden"). Wie zahlreiche ihrer theosophischen Werke ist ein Großteil ihrer Prosa ursprünglich in englischer Sprache verfaßt. Sie hoffte ihr dadurch eine größtmögliche Massenwirksamkeit zu sichern. Später wurden von ihr bzw. ihren Freunden Übersetzungen ins Russische angefertigt. Die in verschiedenen Zeitschriften verstreuten Erzählungen wurden schließlich posthum im Sammelband "Nightmare tales" (1892) zusammengefaßt. Die oben erwähnten fünf Erzählungen gehören zu den bekanntesten Blavatskajas, weshalb sie auch Eingang in den vorliegenden Sammelband fanden.

E. P. Blavatskajas literarisches Werk orientiert sich sowohl an der russischen als auch an der gesamteuropäischen Romantik, wobei ein starker Einfluß E. T. A. Hoffmanns zu spüren ist. Wenn auch ihre theosophischen Werke der russischen Moderne, vor allem dem Symbolismus stimulierende Impulse verliehen, ist ihre Prosa doch einer literarischen Tradition verpflichtet, die zum Ausgang des 19. Jahrhunderts im gesamteuropäischen Kontext bereits überwunden war und ihnen deshalb eine gewisse Sonderstellung zuwies.

Im Gegensatz zu ihren Reiseberichten stießen ihre Erzählungen in Rußland auf relativ wenig Resonanz, was sicher auch dem Umstand der ursprünglichen Englischsprachigkeit des Originals angelastet werden kann. Gegenwärtig wird Blavatskajas Prosa vor allem in theosophischen Verlagen in russischer Sprache publiziert, wobei sie auch von einem allgemein am Phantastischen interessierten Publikum eine wirksame Rezeption erfahren.

Blavatskajas Prosawerk bezog zwar einen Großteil seiner Inspiration aus der Romantik, weist aber darüber hinaus Besonderheiten auf, die mit dem "okkulten Welterklärungsmodell" zusammenhängen, dessen Initiatorin seine Verfasserin war. Gerade bei überzeugten Anhängern okkulter Modelle besteht meines Erachtens nach ein sehr enger Zusammenhang zwischen Schaffen und Weltbild. Eine Spezifik dieser Systeme besteht darin, daß es sich hierbei nicht einfach um Weltanschauungen handelt, die man nach Belieben wechseln kann. Ein okkultes Welterklärungsmodell ähnelt in einigen Punkten einem Glaubenssystem, das aber nicht nur die sporadische Befolgung gewisser Riten und Dogmen voraussetzt, sondern erwartet, daß der betreffende Adept sein gesamtes Leben nach dessen Grundlagen ausrichtet. Es handelt sich also dabei im Grunde genommen nicht nur um eine Lebensdeutung, sondern um eine Lebensweise. Das okkulte System soll nicht nur vom Verstand, sondern vom gesamten Ich erfaßt werden. Damit fällt die Freiheit des rationalen Reflektierens und beliebigen Wechselns von einem System ins andere sowie die Möglichkeit eines rein operativen Anspruchs an dieses weg. Sich auf diese Überlegungen stützend kann man meiner Meinung nach folgerichtig von einem Zusammenspiel zwischen okkulter Weltanschauung und literarischem Schaffen seiner Apologeten ausgehen. Diese These will ich anhand von Blavatskajas Erzählungen verdeutlichen. Diese Werke zeichnen sich grundsätzlich durch gattungsspezifische Eigenschaften aus, die prinzipiell für die "phantastische Literatur" kennzeichnend sind. Gleichzeitig finden wir Unterschiede zu dieser Gattung, die meiner Meinung nach mit dem okkulten Welterklärungsmodell, das Blavatskaja vertrat, zusammenhängen.

Im folgenden sollen deshalb Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Erzählungen Blavatskajas zur "phantastischen Literatur" dargestellt werden.

"Phantastische Literatur" läßt sich dahingehend definieren, daß sie vor allem durch das Auftreten von Erscheinungen charakterisiert ist, die nicht dem allgemein anerkannten empirisch-rational determinierten und dem gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaften entsprechenden Weltbild kongruent sind. Ein Unterschied der Werke Blavatskajas zur phantastischen Literatur ergibt sich allein schon aus der Beschreibung der Natur dieser Erscheinungen. Phantastische Darstellung impliziert unbegrenzte Phantasie bzw. schrankenlose Fiktionalität:

"Dem Kenner der phantastischen Literatur wird jetzt sofort auffallen, daß sowohl dieses Hervortreten als ein Sich-Manifestieren als auch die Erscheinungen, die durch diesen Akt in die fiktionale Welt des Textes eintreten, keinerlei Beschränkungen unterliegen."

Blavatskajas Erzählungen aber spiegeln keineswegs Erscheinungen wider, die über den Rahmen ihres theosophischen Weltmodells hinausgehen. So finden wir zwar Fälle von Telepathie und Hellsichtigkeit ("Das verzauberte Leben"), unter gewissen Bedingungen auftretende Geistererscheinungen ("Die lebendige Geige"), ein auf nicht alltägliche Weise provoziertes Geständnis eines Mörders ("Die Höhle des langen Echos"). Vergeblich aber wird der Leser darauf warten, daß ein Toter in seinem ehemaligen Körper wieder lebendig wird, d. h. "im Fleische" aufersteht, oder etwa der Teufel selbst, wie ihn das Christentum konzipiert, in Erscheinung tritt. Der erstgenannte Umstand widerspricht der theosophischen Theorie, die davon ausgeht, daß die Seele sich nach dem Tode vom Körper trennt, ins Devachan eintritt und eine vollständige Rückkehr, sobald dies geschehen ist, nicht mehr möglich sein wird. Wo sich derartiges dennoch abspiele, würde es sich nur um von bestimmten geistigen Wesenheiten provozierte Materialisierungen handeln, die nichts mit dem Verstorbenen gemein haben. Allerdings wird der Seele die vollständige Einkehr ins Devachan verwehrt, wenn Körperreste mit Hilfe von schwarzer Magie manipuliert werden, wie dies die Geschehnisse in "Die lebendige Geige" illustrieren. Der Satan hingegen ist für die Theosophen nur eine Projektion, der die Ausblendung eines bestimmten integralen Bestandteils der Welt, nämlich des Bösen durch das menschliche Bewußtsein, auf andere Weise kompensieren will. Würde eine Teufelsgestalt auftreten, müßte sie vom Autor in diesem Sinne erläutert werden.

Mit dem Drang zum Erläutern zur Erlangung größtmöglicher Plausibilität hängt auch eine weitere Besonderheit der Prosa Blavatskajas zusammen. Die "phantastische Literatur" ist von einer Unschlüssigkeit bei Leser und / oder Protagonisten gekennzeichnet, im Hinblick darauf, ob die dargestellten Phänomene noch eine rationale Erklärung finden können oder nicht. Diese Unschlüssigkeit wird in Blavatskajas Erzählungen ausgeräumt. Die Ereignisse finden zwar keine Erklärung, die an der empirisch erfahrbaren, allgemein akzeptierten Realität orientiert wäre, sondern sie erhalten ihre Erläuterung auf dem Hintergrund des theosophischen Weltmodells. Okkulte Weltmodelle erheben für sich einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, der darin besteht, Erscheinungen und Ereignisse logisch nachvollziehbar im Sinne ihres Systems evident zu machen.

Die "andere", phantastisch anmutende Welt soll mit allen Mitteln so plausibel wie möglich gestaltet werden. Man will suggerieren, daß der Okkultismus eine besondere Art von Wissenschaft sei, die in der Lage ist, auch Dinge aufzuhellen, über die die Naturwissenschaft nur spekulieren könne. Auf diese Weise soll auch der Rezipient dazu angeregt werden, sich mit Okkultismus zu beschäftigen. Blavatskaja beschreibt eingehend und ausführlich die verschiedenen Rituale, die die mit dem Okkultismus vertrauten Magier, Priester Schamanen etc. zelebrieren, um bestimmte Phänomene hervorzurufen. Besonders deutlich wird dieses Verfahren in der Erzählung "Der glänzende Schild" angewandt. Detailliert wird beschrieben, wie der Derwisch sein Medium einstimmt, welche Gebärden und Zeichen er macht, auf welche Weise Tatmos dann herumgeschleudert wird, um den von ihm gewünschten Effekt zu erzielen, nämlich die Stadt in einer "Zauberscheibe" erscheinen zu lassen. Allerdings geht Blavatskaja nicht soweit, die Bedeutung der einzelnen Rituale genau zu kommentieren, sondern sie beschreibt die Geschehnisse aus der Position einer aufmerksamen, gleichzeitig aber außerhalb des Geschehens stehenden Beobachterin. Eine magische Schulung ist den Mitgliedern der "esoterischen" (geheimen) Sektion der "Theosophischen Gesellschaft" vorbehalten, da ihrer Meinung nach dieses Wissen in den Händen der "Profanen" nur Unheil anrichten würde. Die Autorin geht aber grundsätzlich davon aus, daß eine fundamentale Erklärung des Hintergrunds der Erzählungen auf Grundlage der Kenntnis der theoretischen Implikationen der Theosophie gegeben ist. In "Die Höhle des langen Echos" entpuppt sich der Sohn des Nikolaj Izvercov als Reinkarnation von dessen ermordeten Onkel. Der Umstand, daß das Kind schon in jungen Jahren zu altern beginnt, läßt sich damit erklären, daß sich seine Seele nicht entsprechend lange genug im Devachan erholen konnte und sofort nach dem Tode wieder in den Kreislauf der Wiedergeburten eingespeist wurde. Nur er kennt die wahre Identität des Mörders und kann auf diesen weisen, weshalb der Schamane zur Aufklärung des Falles den Jungen holen ließ, ohne den er trotz aller Hellsichtigkeit keinen Erfolg gehabt hätte.

Um die Authentizität der Geschehnisse zu verbürgen, gibt die Autorin oft sehr genaue Ortsangaben, verwendet historische Namen für die die Protagonisten umgebenden Personen. Sowohl die Beschreibung Istanbuls als auch die Sehenswürdigkeiten Japans sind historisch belegt. Das Phantastische findet nicht in einem phantastischen Raum-Zeit-Kontinuum statt, sondern im historisch-fixiertem Rahmen am historischen Ort. Es soll sich auf diese Weise als authentisch präsentieren. Die "andere Ebene" ist nach theosophischer Vorstellung für jeden durch Schulung erfahrbar. Je weiter der Schüler in die okkulten Wissenschaften eingeweiht ist, um so tiefer wird er die ihn umgebende Wirklichkeit begreifen. Deshalb sehen in "Die lebendige Geige" manche Zuschauer auf der Bühne nach Stenios Spiel weißen Rauch aufsteigen, andere aber können nichts dergleichen erkennen. Alles ist nur eine Frage der Ausbildung einer bestimmten Art von Weltwahrnehmung. Was heute noch phantastisch anmutet, wird morgen reales Erlebnis.

Charakteristisch für Blavatskajas Prosa ist, daß sie sich oft auf Mythen bezieht, zumindest mythologische Gestalten nennt (Orpheus, Eurydike, Syrinx, Pan, Kalliope, Shiva, Hanuman etc.). Einerseits mutet dies auf den ersten Blick an, als kokettiere die Autorin mit ihrem Wissen auf diesem Gebiet, andererseits läßt die Kenntnis der theosophischen Lehre darauf schließen, daß sie mit diesem Vorgehen weitergehende Absichten verfolgt. Die Theosophie projiziert in die ferne Vergangenheit ein goldenes Zeitalter, das als die eigentliche Zukunft der Menschheit wieder zum Leben erweckt werden müsse. Blavatskajas Protagonisten bewahren die Erinnerung an diese Zeit und schaffen damit eine Möglichkeit, wenigstens im Geiste die Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft zu überschreiten. Zeit wird also einmal historisch fixiert, gleichzeitig aber auch transzendiert. Es wird vorstellbar, die Zeit zu überwinden. Zeit ist nach theosophischen, vor allem auf buddhistischen Vorstellungen beruhenden Konzeptionen, nichts weiter als eine Illusion. Die Beschreibungen, die sich dem Mythos zuwenden, unterscheiden sich wie auch die Naturbeschreibungen Blavatskajas stilistisch vom übrigen Text. Ein Übermaß an Epitheta und Metaphern schafft eine Art "lyrische Prosa".

Wenn mythologische Elemente auch wiederholt in Blavatskajas Erzählungen auftreten, schafft sie doch keine Mythopoetik im Sinne von A. Hansen-Löve. Bezüge auf Mythen sind vom übrigen Textkorpus in den meisten Fällen klar getrennt; es findet keine direkte Vermischung von Mythos und Erzählung statt. Ich möchte diese Textstellen deshalb eher als "lyrischen Einschub mit mythologischer Referenz" bezeichnen.

Auffällig ist die besonders Blavatskajas Reiseerzählungen prägende didaktische Intention, die zwar im gesamten Prosawerk zu spüren ist, hier aber mit besonderer Deutlichkeit hervortritt. So unterbricht sie oft den Fortgang des Berichts, um ihr wichtig erscheinende Erklärungen einzuflechten. Sie kritisiert die zeitgenössische Naturwissenschaft, präsentiert die Theosophie als eine Lehre, die verborgenes Wissen wieder an die Öffentlichkeit bringt, betont die Überlegenheit der Inder über ihre westlichen Kolonialherren, spekuliert über die Entstehung der Instrumentalmusik. Sie wiederholt Lehrsätze, die auch ihre theosophischen Schriften dominieren. Dabei werden, um die äußere Form der Erzählung nicht zu zerstören, die didaktischen Intentionen meist in Form eines Dialogs gestaltet. Einer der Protagonisten bekommt dann die Rolle des Unwissenden, des Fragenden zugewiesen, der andere die des Belehrenden, des Weisen. Beider Rollen sind nicht austauschbar. Das Verhältnis Schüler-Lehrer bleibt bis zum Ende konstant und markiert eine bestimmte geistige Hierarchie. Ein ähnliches Verfahren wandte Blavatskaja auch in ihrem theoretischen Werk "Key to Theosophy" ("Der Schlüssel zur Theosophie"; 1889) an. Die Dialoge sprengen aber nie den Gesamtrahmen der Erzählung. Eine didaktische Überfrachtung wird vermieden.

Blavatskajas Erzählungen stellen insgesamt einen wichtigen Bestandteil ihres Schaffens dar, der bis heute leider weitgehend unerforscht ist. Ihre Prosa demonstriert, daß Blavatskaja nicht nur eine umstrittene Persönlichkeit, eine originelle, oft mißverstandene Denkerin, sondern auch eine talentierte Schriftstellerin war. Man kann Robert N. Bloch, einem der wenigen, die sich über ihre Erzählungen geäußert haben, zustimmen, der schreibt:

"In ihren Geschichten weiß sie die unheimliche Thematik recht effektiv zu gestalten, manchmal schweift sie in Romantizismen à la Mabel Collins oder Marie Corelli ab, doch insgesamt bleibt der Erzählfluß erhalten, … hat sie ein gewisses Erzähltalent und ihre Geschichten wissen zu unterhalten."




  

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